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Wir erreichen mit diesem Konstruktionselement eine Blickverlängerung – von der

bürgerlichen Natur- und Gartenidealisierung der „Luise“ hin zur Ideal-Antike.

Kabinett 5:

Revolution und Humanismus. Sturm auf die Bastille

Wir gestalten einen erdbebenartigen Riss im Boden. Wir nehmen damit ein brisan-

tes, in seiner Bedeutung konventionalisiertes Symbol auf. Die erste Begegnung

der Deutschen mit der Französischen Revolution war der Sturm Pariser Bürger auf

das französische Staatsgefängnis am 14. Juli 1789. Spitzhacken gruben sich in das

Gemäuer der verhassten Bastille. Wir tragen neben dem nachgebildeten Turmriss

jeweils Pro- und Contra-Meinungen deutscher Schriftsteller zur Französischen

Revolution auf. Eine inwendig eingebaute Hörglocke in französischen Farben

lässt – je nach Bedienung – Vossens „Hymnus an die Freiheit“ als Nachdichtung

der Marseillaise/Gesang der Neufranken (1793) bzw. die Marseillaise erklingen,

letztere gesanglich interpretiert von Mireille Mathieu. Stark eingekürzt bietet die

Hörstation zudem Stefan Zweigs novellistische Erzählung der Entstehung der

Marseillaise, eine „Sternstunde der Menschheit“, professionell von einem Schau-

spieler gelesen. Der weitere Fragestellungen einbeziehende Explikationsmarker

Lupe lädt zum Weiterdenken ein.

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Wenige Jahre später setzt Voß in seinem „Gesang der Deutschen“ nicht mehr auf den radikalen

Umsturz aller Verhältnisse: „Vernunft, durchWillkür erst befehdet,/ Doch kühn und kühner, singt und

redet/ Von Menschenrecht, von Bürgerbund,/Von aller Satzung Zweck und Grund [...]./Nicht mehr

verfolgt wird Leh’r und Meinung,/ Nicht gilt für Gottesdienst ein Brauch;/Nur Lieb ist aller Kirchen

Einung,/ Der Tempel und Moskeen auch“ [...] „Nur Tugend, nicht Geburt, gibt Amt und Bürde.“

(Zit. nach Sämtliche poetische Werke, hg. von Abraham Voß. Nebst einer Lebensbeschreibung von

Theodor Schmid, Leipzig 1835, S. 184.) Diesen - sonst dem Adel entgegengehaltenen - Grundsatz

überträgt Voß nun auf die Staatsform. Monarchiekritik suchte die gesellschaftliche Verfassung

in fortschrittliche Bahnen zu lenken. Wie andere fortschrittliche Geister seiner Zeit gibt er die

Regierungsform Monarchie nicht auf, er verfolgt eine Reform der politischen Verhältnisse im

Rahmen der konstitutionellen Monarchie. Voß setzt in seiner Dichtung „Das Oberamt“ (1795)

die von ihm verfochtene Idee der Volkssouveränität gegen das Gottesgnadentum. Gegen eine

dynastisch ererbte und vererbbare Regentschaft und gegen eine Regierung, die sich in den Händen

eines einzigen Beamten konzentriert, setzt Voß die konstitutionelle Utopie der Mitbestimmung.

Mit einem solchen Wechsel erhält der Fürst sein herausgehobenes Existenzrecht allein durch die

Funktion, der Wohlfahrt und dem gesellschaftlichen Fortschreiten zu dienen. Das Volk delegiert

seine Macht und Majestät an den Regenten, von diesem dafür verlangend, die Kräfte des Staates

für das Gemeinwohl zu lenken. Und dies kontrolliert das Volk demokratisch („das Volksgesetz“,

in „Gesang der Deutschen“, ebd., S. 184). Die alte metaphysische Substanz erscheint so durch eine

moderne Funktion abgelöst. Damit ist Voß auf dem Weg zum modernen Verfassungsstaat. Eine

Regierungsform, bei welcher der Regent die Krone aus den Händen des Volkes erhalten sollte, ist

quasi eine gekrönte Republik.