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geistige Warenverkehr – bestimmten die verlorene Frühe. Aus dieser sollen die
Deutschen regenerierende Kraft schöpfen. Voß betritt mit seinen Schülern die
Hellenenheimat gleichsam als Lernort. Antike Lebens- und Denkmodelle kön-
nen anregen, sich für eine bessere Lebens- und Gesellschaftsordnung zu enga-
gieren. Sie können das gegenwärtige Zeitalter überwinden helfen, in dem Stan-
desdünkel und ein „kleinliche(r), erwerbstüchtige(r) und eigennützige(r) Geist“
„einsammelnder Hamster“ herrsche. Vossens „Wallfahrten ins Altertum“
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zielen
auf Schulabgänger, die einmal einen „menschlichen, des höheren Gemeinwohls
fähigen Bürgerverein“
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formen können. Für all dies kreierte die neuere Kultur-
wissenschaft den Begriff „Mythomotorik“, gefasst als orientierende Kraft des
Mythos.
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So gesehen wirkt das Altertum als „kontrapräsentischer Mythos“:
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Es
besitzt politische Sprengkraft, auch wenn in Vossens Brief an Sigmund Freiherrn
von Reitzenstein kein auf Realpolitik ausgerichteter Staatsgedanke sichtbar wird.
Menschenbildung wird stimuliert durch ästhetische Erfahrung. Dabei schreibt Voß
einem originalnah übertragenen Homer eine besondere Wirkkraft zu. Der Über-
setzer müsse die rhythmische Kraft Homers lebendig werden lassen. Voß beruft
sich wie zahlreiche Gelehrte vor ihm auf die Verwandtschaft der griechischen und
deutschen Sprache
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und leistet so einen Beitrag zu der auch von Wilhelm von
Humboldt immer wieder beschworenen deutsch-griechischen Wesensverwandt-
schaft. Deklamiert könne der Hexameter die Wirkung menschlicher Durchbildung
entfalten. Wir rücken die gesprochene Sprache in den Mittelpunkt des erlebenden
Interesses und überschreiben das Ausstellungselement entsprechend: „Der Hexa-
meter. Eine Art Trommelweise von Anmut und Kraft“.
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Die Überschrift entfaltet
einen Magnetismus eigener Art. Dieser soll wirken, denn wir möchten dem Besu-
cher als Beweisstücke auch die Ohrenprobe und die Lektüre ausgewählter Text-
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Voß hatte „Wallfahrten ins Altertum“ als Titel für ein von Wolf geplantes Gemeinschaftswerk vor-
geschlagen. Voß an Friedrich August Wolf, 17. 11. 1795. In: Voß Briefe. Nebst erläuternden Bei-
lagen hg. von Abraham Voß. 3 Bde. Halberstadt 1829-1833, Bd. 2, S. 379. Er sprach vom „Heilig-
thume der Alten“, vom „hochmenschliche(n)“, ebd., S. S. 231.
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Johann Heinrich Voß: Lehr-Plan für alle kurpfalzbayrischen Mittel-Schulen [Rezension]. In: Jo-
hann Heinrich Voß. Ausgewählte Werke, hg. von Adrian Hummel, S. 283f. Ebd.
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Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen, 5. Aufl., München 2005, S. 80.
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Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis., S. 76.
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Vgl. z. B. der sich auf Vorleistungen berufende Valentin Arnold: Über die Verwandtschaft der
griechischen und deutschen Sprache. Erste Abteilung, Würzburg 1853, die Berufung auf Voß S.
5. In der Unvermischtheit der Stammsprachen, einsilbigen Hauptwörtern, die als Wurzelwörter die
nahezu unbegrenzte Fähigkeit besitzen, neue Ableitungen zu bilden, entdeckte man dezidierter ab
1750 Gemeinsames. Siehe z.B. Johann Christian Vollbeding: Deutsch-griechisches Wörterbuch,
Leipzig 1790, S. XXII.
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Johann Heinrich Voß. Erinnerungen aus meinem Jugendleben. In: Briefe von Johann Heinrich Voß,
hg. von Abraham Voß, Halle 1829, S. 25.