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Kabinett 6:
Der Schulmann Voß. Erziehung mit dem Blick zurück nach vorn
Mit Tiefenwirkung ausgeführt, zitiert ein auf die Wandfläche aufgetragenes Ar-
chitekturelement den von Säulenhallen gesäumten Innenhof eines Gymnasions,
Ort der Erziehung der Jugend. Die frei stehende schlanke ionische Säule, deren
Säulenmantel ohne Prunk wie die Falten eines Gewandes gestaltet ist, versinn-
bildlicht die von Voß idealisierte Zeit, deren historische Voraussetzungen erläutert
werden.
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Ein Raumzitat führt Kernformeln neuhumanistischer Antikezuwendung
exemplarisch vor Augen. Schulrektor Voß beschwört das Altertum als politische
und soziale Utopie, auf die es in der Schule hinzuarbeiten gilt. Die literarisch-
künstlerische Antike ist Lernort. Erziehung erfolgt mit dem Blick zurück nach
vorn:
„Das Studium der Alten soll Humanität, Veredelung dessen, was den Menschen
erhebt, abzwecken. Wir streben aus einem verdumpften Zeitalter in jenes, wo
unter heiterem Himmel, in vielseitigem Verkehr fruchtbarer Küstenländer, durch
Verfassung und Religion begünstiget, der regsame Mensch sein Göttliches frei
entwickelte und reifte. Wir ahnden und schaun, mit stets belohnterer Anstrengung,
wie man in der besseren Welt lebte und webte, wie unter Großen der Größere auf-
blühte, wie der Trefliche der ersten Klasse, oder der Klassiker, dachte, empfand,
redete, wie er bald mit mildem Worte der bescheidenen Gleichheit, bald mit dem
Donner der höheren Gewalt, zu Gemeinwohl, zu Tugenden, zu ewiger Schönheit
begeisterte.“
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„Gleichheit“, „Tugend“ und „Gemeinwohl“ – allgemeindemokratische und ethi-
sche Prinzipien vernünftiger Lebensgestaltung, hinzu tritt der kosmopolitische
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Geographische Bedingungen (Inseln) und die Stammesverschiedenheiten standen der Ausbildung
einerstarkenZentralgewaltGroßgriechenlandsentgegen,dassichdurchKolonisierungimOstenüber
Kleinasien bis zum Schwarzen Meer und imWesten bis nach Spanien ausweitete. Die Stadtstaaten,
die Poleis, konnten weitgehend ihre Autonomie bewahren. Die Städte erlangten im Verlauf des 7.
und 6. Jahrhunderts das wirtschaftliche und politische Übergewicht über den grundbesitzenden
Adel. Mit der Beseitigung der Adelsherrschaft erschienen, vollends in der Zeit der athenischen
Demokratie, Widersprüche zwischen der Freiheit des Einzelnen und die Gleichberechtigung aller
freien griechischen Bürger überwunden. Nicht die aristokratische Machtfülle eines Despoten,
sondern eine gleichberechtigte Schicht von Bürgern steuerte die Geschicke der Polis. Verwaltung,
Kultur und Verteidigung wurde von freien Bürgern ausgeübt. Es gab kein Beamtentum. Das Los
entschied über die Verteilung der Ämter. Daher war die umfassende Bildung der Persönlichkeit,
die Entfaltung aller geistigen und körperlichen Kräfte, das Ziel der griechischen Erziehung. Siehe
Erika Thiel: Kunstfibel, Berlin 1987, S. 37-39.
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Johann Heinrich Voß: Brief an Sigmund Freiherrn von Reitzenstein, April 1807 (nach der Hand-
schrift wohl eine Abschrift von Heinrich Voß (1779-1822), in der Eutiner Landesbibliothek, Signa-
tur IIb). Adrian Hummel (Hg.)J.H.Voß, S. 287.