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Beabsichtigterweise erhellen lediglich die Voß-Texte, nachlesbar am Lesescreen
der Bibliothek, den Gehalt beider Wandbilder. Damit setzen wir Bild und Text ins
umgekehrte Verhältnis. Nicht die Bilder, sondern die Texte illustrieren. Überrascht
von solcher Umkehrung, tritt der Besucher womöglich neugieriger an die einzig
und allein einen Kommentar bietenden Voß-Texte heran, die auch dem Wandre-
gal entnommen werden können. Aber auch dem „unliterarischen“ Besucher bie-
tet sich ein Zugang in das Wesen der Voß-Texte. Die zeichnerische Wirkung der
Wandbilder wird bestimmt durch Verzerrung, wie sie in der Satire üblich ist. Fällt
der Blick des Besuchers dann zudem auf die Sklavenfessel, ein brisantes Zeit-
symbol
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, und den Globus, der die Güterverteilung in Mecklenburg zu Vossens
Lebzeiten zeigt (Abb.4), dann vermag allein die Inszenierung verdeutlichen: Voß
greift Mythisch-Antikes und Mythisch-Heimisches auf, um in den verwendeten
Mythen zeitgenössische soziale Lebenswahrheit einzufangen und zu kritisieren.
Er verwandelt Polyphem und den wilden Jäger in einen „Landjunker“. Er zieht
Mythisches so ins Politische.
Der Sorge, dass diese Dichtungen sich für schulische Arbeitsmöglichkeiten als
problematisch darstellen, möchte ich mit einigen helfenden Erwägungen entge-
gentreten.
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Ich wende mich hier zuerst der Schulart Gymnasium, anschließend
der Realschule zu.
Zunächst zur komischen Variante: Der Mecklenburger und Hainbündler siedelt
das antike Modell der Idylle, ähnlich wie der Pfälzer F. (Maler) Müller in sei-
ner „Schaaf-Schur“ (1775), auf gegenwärtigem heimischen Boden an. Voss lehnt
sich in Form und Inhalt im „Ständchen“ (1778) an Theokrits 11. Eidyllion „Der
Kyklop“ an, aber auch an dessen 6. Eidyllion „Wettsänger“ und an Theokrits 3.
Eidyllion „Das Ständchen“.
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Die Kyklopenfigur hat einen hervorragenden Platz
im Bildgedächtnis der Odyssee-Leser. Ein einäugiger Riese, ein zottiges Unge-
heuer von hässlicher Gestalt, liebt bei Theokrit erfolglos die zarte Meernymphe
Galateia. Theokrit spielt mit dem Kontrast zwischen der Plumpheit des Riesen
Polyphem und der Zartheit der Geliebten, er spielt mit dem Kontrast zwischen
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Unser Lupenpiktogramm lädt auch hier zur Vertiefung am Lesescreen ein. Dort findet der Besucher
Fragmente aus dem zeitgenössischen Leibeigenschafts-Diskurs, der die Gleichsetzung von Sklave-
rei und Leibeigenschaft intensiv aufnahm.
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Hierfür bietet die Habilitationsschrift von Małgorzata Kubisiak wertvolle Anregungen. Dies.: Die
Idyllen von Johann Heinrich Voß. Idylle als poetologisches Modell politischer Lyrik, Łódź, 2013.
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Theokrit: [Der Kyklop], in: Theokrit: Gedichte,. Griechisch-deutsch, hg. und übersetzt von Bernd
Effe, Düsseldorf/Zürich 1999, S. 87-91. Voss hat das 6. und 11. Polyphem-Eidyllion um 1790 und
das 3. Eidyllion „Das Ständchen“ 1808 in seiner Übersetzung veröffentlicht. Bibiliographische
Angaben in: Małgorzata Kubisiak, S. 85.