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Eichendorff), eine Zitatengalerie gewissermaßen, inhaltlich im Sinne des Kontro-

versitätsgebots ausgewählt. Wir stellen anerkennenden Äußerungen von Zeitge-

nossen solche gegenüber, die Voß Leistungen und Charisma absprechen. Die Zitate

beinhalten: Voß besitzt eine edle Gestalt, er wirkt nordisch hell, er trägt griechische

Züge, er ist bodenständig robust, gesellschaftlich gehemmt bei überraschend tiefer

Bildung, gastfreundlich, großzügig, aber auch: er ist streitsüchtig, sich in Stand-

punkte verbeißend, er kennt bei Differenzen in Sachfragen keine menschlichen

Verbindlichkeiten mehr, er setzt in oftmals verletzender Weise seinen gelehrten

oder politischen Standpunkt vor Verbindlichkeiten, die Freundschaften oder Weg-

genossenschaften ihm auferlegen. Er besitzt ein natürliches Griechenverständnis,

und er ist ein Mann, der späteren Jahrhunderten bitter nötig sein, aber eben dort

schmerzlich fehlen wird. Und er erscheint als Mann, der „sich bereits überlebt hatte

und darüber ganz grämlich geworden war.“

10

Bei Betrachtung dieser Zitatengalerie

lässt sich 1. erfahren, dass Bilder immer zwei Komponenten haben. Sie enthalten

immer Realität

und

Konstruktion. Sie bilden Reales ab

und

die Wertewelt der

Person, die sieht, also auch affektive Gefühlsregungen, ästhetische und politische

Bestrebungen des Urteilenden, die in Voß jeweils hineingespiegelt werden. Und 2.

begegnen dem Besucher dort Festlegungen seines Charakters anhand seiner Ge-

sichtsbildung, was unserer Absicht nach ein Interesse an Vossens Porträt hervorruft.

Kabinett 1: Würfelmosaik

Dieses bieten wir nun nicht in üblicher Weise beim Eingang in die Ausstellung

als Leinwandbildnis. Vor der als umlaufender Wandfries gestalteten Zitatengale-

rie, diese wirkt zugleich als waagerechtes lineares Stilelement, setzen wir eine

haptisch wie intellektuell anregende neunteilige Würfelkonstruktion; die Neun-

zahl zitiert die neun Musen. Die Würfelkonstruktion spiegelt oder verdoppelt das

Thema der Signifikation des Voß’schen Charakters in seinen Zügen im Rahmen

der zeittypischen Physignomik

11

, die Wurzeln in der Antike hat. Der prominente

Schweizer Gesichtsforscher Johann Caspar Lavater, Freund der Brüder Stolberg

und Anreger deutscher Klassiker, von Voß wegen seines Pfaffentums geschnitten,

vertrat die Ansicht, von den Gesichtsformen auf den Charakter eines Menschen

schließen zu können. Als zu interpretierende Basis der Gesichtsbildung betrachte-

10

Joseph v. Eichendorff: Erlebtes. Zit. nach Reinhard Siegert: Die Staatsidee J. v. Eichendorffs und

ihre geistigen Grundlagen, Paderborn 2008, S. 55.

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Das in vier Foliobänden zwischen den Jahren 1775 und 1778 veröffentlichte Werk „Physiogno-

mische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“, Leipzig - Win-

terthur 1775 – 1778, wurde ein europäischer Bestseller. Lavaters Lehrsystem der Physiognomik

entwickelte sich zum Kristallisationspunkt der neu entdeckten und emphatisch gefeierten Kategorie

der Individualität des Sturm und Drang.