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von 1873 erinnert: „Zu den Eigentümlichkeiten unserer Zeit gehört das Massen-
reisen. Sonst reisten bevorzugt Individuen, jetzt reisen jeder und jede“
22
– dies
wohlgemerkt 1873!
Glücklicherweise fällt diese Begegnung an den Beginn vonAnnas Romreise, denn
am 5. Oktober, zehn Tage nach ihrer Ankunft in der Ewigen Stadt, brechen die
Einträge in ihrem Tagebuch unvermittelt ab. Wie lange sie in Rom geblieben und
auf welchem Weg sie nach Chur zurückgekehrt ist, wissen wir nicht
23
.
Mit nie erlahmender Begeisterung suchte sie möglichst alle Kirchen, Museen und
Ruinen der Stadt am Tiber auf. Welche Kunstwerke sie dort antreffen werde, war
ihr zuvor schon bewusst, denn sie hatte sich intensiv auf ihre Reise vorbereitet;
auch dazu finden sich bei Fontane zahlreiche Querverweise
24
: Im Gegensatz zu
dessen Heroinen, welche auf der Hochzeitsreise am Arm ihres neu angetrauten
Ehemanns durch italienische Museen und Kirchen wanken und über kulturelle
Übersättigung, Kopfweh und Fussschmerzen klagen
25
, besuchte Anna auf einer
späten, bürgerlich gewordenen
Grand Tour
die Sehenswürdigkeiten der Ewigen
Stadt mit nie nachlassender Energie. Ihr Elan steht jenem eines Innstetten, Petöfy
oder van der Straaten in nichts nach. Mit ihrer Lust nach Kunst verkörpert sie das
Ideal der Bildungsbürgerin
par excellence
26
.
22
Fontane 2007, S. 5.
23
Das Phänomen des plötzlich abbrechenden Tagebuchs ist nicht einzigartig: Auf ihrer siebenwöchi-
gen Italienreise von 1874 enden die Tagebucheinträge Theodor Fontanes mit der Ankunft in Rom
am 15. Oktober und jene seiner Frau Emilie am 12. November in Neapel. Der Aufenthalt in Capri,
Sorrent und Piacenza ist nicht mehr beschrieben: Grevel 2011, 103 mit Anm. 10.
24
Zu Fontanes Vorbereitungen seiner beiden Italienreisen: G. Catalano 2011; Mugnolo 2011.
25
Fiandra 2011; Vitz-Manetti 2011. Auch Anna Weber sind die physischen Qualen einer Italienreise
nicht unbekannt: In ihrem Rom-Tagebuch schreibt sie zum 2. Oktober, Vormittag: «nun zeig, dass
du auch einmal brav sein kannst, und wandere, belastet von drückender Hitze, nach St. Pietro
in Vincoli» und zum 3. Oktober, Vormittag, bei der Besichtigung der Kapitolinischen Museen:
«und Saal folgt auf Saal, und die Füsse brennen und die Ausrüstung von Reisebuch und Perspectiv
ermüdet die Hände – und nirgends ein Stuhl». Ebenso beschwerlich wurde der Bündner Bergstei-
gerin die steile Treppe zur Laterne der Kuppel von St. Peter am Vormittag des 4. Oktober.
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Zu ihrem „Kunstgenuss“ äußert sich Anna Weber in ihrem Rom-Tagebuch am Vormittag des 2.
Oktober beim Besuch von Raffaels Stanzen im Vatikan folgendermaßen: «Vor Jahren, als Mi-
chel-Angelo in Florenz mich so gewaltig ergriff, war der maassvolle Rafael mir beinahe gleichgül-
tig, ja mehr als das, - die Engelsmilde seiner Madonnen war mir ärgerlich, denn ich stellte an alle
Kunst die Anforderung, dass sie mich leidenschaftlich bewege. Seitdem hatte ich mir ein anderes
Kunstideal gebildet, aber trotzdem zweifelte ich an meiner Fähigkeit, die Grösse Rafaels zu erfas-
sen» und am Vormittag des 4. Oktober beim Besuch der Sixtinischen Kapelle vor Michelangelos
Deckengemälde mit der Erschaffung Adams: «Er lebt – und schon kennt er den Schmerz, der ihn
von nun an geleiten wird. Ach! – dass er zurücksinken könnte in das Nichts!»