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199

wusstsein des Bildungsbürgertums

16

. Wie ein

cantus firmus

begleiten diese beiden

Aspekte die gesamte Geschichte.

Die Romreise

Die Reise nach Rom im Herbst 1882 bildete den kulturellen Höhepunkt in Anna

Webers Leben. Es war dies nicht ihre erste Exkursion ins „Land, wo die Zitronen

blüh’n“

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, wohl aber ihr erster Aufenthalt in der Ewigen Stadt

18

. Am 26. Septem-

ber brach sie von Chur auf und gelangte über Zürich auf der eben erst eröffneten

Gotthardstrecke mit ihren unzähligen Kunstbauten durch den damals längsten

Eisenbahntunnel der Welt nach Mailand, wo sie mit ihrer Begleiterin Lina und

deren beiden Kinder übernachtete. In Chiasso, dem Grenzbahnhof zwischen der

Schweiz und Italien, begegnete sie Schliemann ein erstes Mal. Der Morgen des

27. September war den Sehenswürdigkeiten Mailands gewidmet, bevor die vier

Schweizer Reisenden den Zug in Richtung Rom bestiegen. Sie teilten das Abteil

mit Familie Schliemann - Heinrich und Sophia, der elfjährigen Andromache, dem

dreijährigen Agamemnon und der englischen Gouvernante; auch für Anna Weber

gut nachvollziehbar wurde diese in jenem Jahr Eurykleia gerufen

19

. Die Schlie-

mann waren zu fünft und die Weber zu viert

20

; das Coupé war demnach dicht

gedrängt

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, was spontan an eine Sentenz in Fontanes Plauderei

Modernes Reisen

16

Auch zum Bildungsbürgertum zitiere ich nur einen einzigen Titel: Glaser 1993, insbes. S. 29-105;

auf S. 51 geht der Autor direkt auf Schliemann und den Niedergang des Bildungsbürgertums ein:

„Die handfeste Art, mit der Heinrich Schliemann dem Traum vom Griechenland konkret nachspür-

te, stellte sozusagen die deutsche Klassik vom Kopf idealistischen humanitären Höhenflugs auf

den Boden der Archäologie. Aus der ganzheitlich poetischen Verlebendigung einer fernen apolli-

nisch-dionysischen Welt wurde die mit Schaufel und Spitzhacke bewirkte Ausgrabung von Bruch-

stücken aus dem Schutt der Zeiten. (...) Leidenschaftliche, aber sublimierte Menschlichkeit schlug

um in ein mit ästhetischer Fassade versehenes nationalistisches Spiessertum.“ Zum gesellschaftli-

chen Niedergang des Bildungsbürgertums ausserdem: Thums 2011, S. 50-51.

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Als Jugendliche war sie zusammen mit Vater und Schwester Emilie einmal in Florenz (Familien-

chronik, S. 90; Rom-Tagebuch, 2. Oktober, Vormittag) und einmal – allein? - in Mailand (Rom-Ta-

gebuch, 27. September, Vormittag).

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Rom-Tagebuch, 30. September, Nachmittag: «ich bin zum ersten Mal hier (

scl.

in Rom) ».

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Zu den Rufnamen der häufig wechselnden Gouvernanten: Samida 2012, S. 27; Coulmas 2002, S.

131. 165. 178. 243; A. Kaufmann-Heinimann, in diesem Band, S. 170 und passim.

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Anna, ihre Begleiterin Lina und deren zwei Kinder.

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Zu jenem Zeitpunkt verfügten die Waggons der 1. und 2. Klasse weder über einen Gang mit einer

Reihe von Abteils an einer Seite noch über einen Mittelgang mit beidseitigen Bänken oder Sesseln,

sondern sie waren aus einzelnen, durch Wände voneinander abgetrennten Kompartimenten kom-

poniert, welche die Reisenden nur von aussen betreten konnten. Zwei Verbrechen in Frankreich

(Poinsot-Mord, 1861) und England (Briggs-Mord, 1864) führten zum Umbau der Waggons: Schi-

velbusch 1977, S. 67-83; Fontane 2007, S. 29 mit Anhang auf S. 252; siehe auch S. 234: Zunahme

der Anzahl der Zugpassagiere zwischen 1860 und 1890.