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berg nicht raus gekommen ist. Aber lies nur, was Virchow von ihm sagt. Und
Virchow wirst Du doch gelten lassen“
45
.
Dieser Kenntnisstand traf für die gebildete Berliner Gesellschaft der 1880er Jahre
bestimmt zu. Woher aber kannte man im entlegenen Graubünden die Taten des
großen Ausgräbers, und wie war sein Bild in die Stuben nach Chur gelangt? Ein
kurzer Abschnitt in der von Annas Schwester, Emilie Manatschal-Weber, ver-
fassten Familienchronik schafft hier Klarheit. Der Tagesablauf des Vaters begann
ebenso früh wie jener seiner Töchter: „Morgens war er immer schon um 6 Uhr aus-
gehbereit, er machte eine Tour um die Stadt, kam heim und las bis zum Frühstück
und zwar meist die wissenschaftlichen Artikel der Augsburger ‚Allgemeinen’“
46
.
Die Neuigkeiten aus der Welt der Wissenschaft besprach man anschließend am
Frühstückstisch. Demnach war
Familie Weber nicht auf die NZZ, die von libe-
ralen Schweizer Kreisen mit Vorliebe gelesene
Neue Zürcher Zeitung
abonniert,
sondern auf die AZ, die damals in Augsburg publizierte
Allgemeine Zeitung
. Hier
hatte Schliemann zwischen 1871 und 1875 seine Grabungen in Troja vorveröffent-
licht und illustriert
47
; in der Beilage 217 der Ausgabe vom 5. August 1873 erschien
sein erster Bericht zum sensationellen Fund des Priamos-Schatzes
48
. Dies sind die
«Schilderungen der Berichterstatter», von denen eben die Rede war. Wie Profes-
sor Schmidt in
Frau Jenny Treibel
verfügte somit auch Familie Weber über Kennt-
nisse aus erster Hand: Dokumente sowohl zu den Feldarbeiten des Archäologen
in Troja als auch zu dessen Physiognomie und jener Sophias, geschmückt mit den
Preziosen des berühmten Schatzes. Für Anna Weber war die Begegnung mit Fami-
lie Schliemann zwar eine glückliche Überraschung aber keine umwerfende Neu-
igkeit – ganz im Gegenteil: Sie besaß beste Vorkenntnisse, um ins Gespräch mit
Sophia so einzusteigen, dass sie an möglichst viel
Insider
-Information gelangte.
Die Passage, die an die Verabschiedung von den Schliemann anschließt, beweist,
wie wenig die Begegnung sie erschüttert hatte: «Abschied von Schliemanns, die
hier etwas Prähistorischem auf der Spur sind, und wohliges Ausdehnen imAllein-
besitz des Waggons, nebst umständlicher Fütterung und Tränkung».
45
Fontane 2005, S. 73-75.
46
Familienchronik, S. 83. Wie wichtig im späteren 19. Jahrhundert der Besitz einer Tageszeitung
auch in den Bergregionen der Schweiz war, beweist die Tatsache, dass Hans Weber seinem im
Sommer auf einer Alp lebenden Bruder Joos jeden Montag durch einen Säumer die Zeitungen der
vergangenen Woche zukommen liess und dieser, der offenbar selbst kein einziges Buch besass,
nicht eher ruhte, als bis er die ganze Sendung gelesen hatte (Familienchronik, S. 31). Anna We-
bers Schwager, der vielseitige Graubündner Politiker und
spiritus rector
des radikaldemokratischen
Vereins, Friedrich Manatschal (1845-1919), gründete 1877 eine eigene Zeitung, das
Bündner Volks-
blatt
.
47
Samida 2009, S. 138-143; zu archäologischen Grabungsprojekten in der Presse des 19. Jahrhun-
derts: Samida 2011.
48
Samida 2009, S. 135-151; Samida 2011, S. 287-291.