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Rücksichtnahme und gütiger Fürsorge», so dass Anna Weber zum Schluss kam:
«Die Dame ist jetzt 30 Jahre alt, also sehr jung im Verhältnis zu ihrem Mann. Er
behandelt sie aber mit so gütiger Fürsorge und väterlichem Zartsinn, dass sie hof-
fentlich die fehlende Jugend leicht verschmerzt».
Schliemanns Aussage am Ende von Anna Webers Bericht: «Es gibt keinen My-
thos. Alles beruht auf historischer Wahrheit. Ich glaube selbst an Herkules und
die Lernäische Schlange. Wenn man in den Sümpfen von Lerna war, wird einem
die Sache klar» ist wohl so zu verstehen, dass ihm sein Besuch der Gegend von
Lerna im Juli 1868
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bestätigt hatte, der griechische Mythos sei unwiderlegba-
re Tatsache, sei «historische Wahrheit». Durch seine archäologischen Aktivitäten
sieht sich Heinrich als Garanten für den Beweis des Realitätsgehalts des Mythos
der Hellenen im Allgemeinen und jenes von Herakles und der Lernäischen Hydra
im Speziellen.
Kinderspiele
Der Zeitvertreib der Kinder während den langen Bahnfahrten ist bisher noch nie
beschrieben worden. Gemäß Anna «werden Menschen, Thiere, Teufel, letztere mit
besonderer Virtuosität und gräulich verrenkten Gliedern, ausgeschnitten, an das
Waggonfenster geklebt und der Vorhang gezogen». Offensichtlich vergnügten sich
die Kinder mit einer vereinfachten und bestimmt auch purgierten Version des im
osmanischen Reich verbreiteten Karagöz-Theaters oder dem auch im befreiten
Griechenland beliebten Karagiozis-Theater, bei dem der Akteur aus Leder, Blech
oder Karton ausgeschnittene Figuren mit mehrfarbiger Innenzeichnung hinter
einem straff gespannten, von der Rückseite beleuchteten weißen Tuch an Holz-
stöckchen hin und her bewegt
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. Die hell erleuchtete Scheibe des Waggonfens-
ters ersetzte die Leinwand, vor der sich die ausgeschnittenen Gestalten wie bunt
belebte Schattenrisse abhoben; der transparente Tüllvorhang
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vermittelte den
Eindruck des matten Hintergrunds. Dass die Kinder für ihre Theatervorstellung
Eintritt erhoben, verstand sich für sie von selbst. Anna Weber kannte das Kara-
giozis-Theater offensichtlich nicht, was ihre sanfte Kritik an der kindlichen For-
derung eines «
entrée
» ebenso erklärt wie ihre leichte Verwunderung darüber, dass
«von so passionirten Altertumsfreunden [die] untadelige Erhaltung des Neuen
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Schliemann 1989, S. 103-104. 114-116.
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Kasper – Karagöz – Karagiosis 1985, S. 22-43 (K. Edinsel). 44-55 (M. Triantafyllidis); Pucher
2014, S. 51-64 (Karagöz). 65-122 (Karagiozis).
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Ein Vorhang aus Tüll schirmte die Bahnfahrenden gegen die Sonne ab, ein zweiter aus dichterem
Stoff diente ihnen während der Nachtfahrt zum Schutz vor unbefugtem Einblick ins Coupé.