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gen- und Ohrenzeugen unwürdiger Szenen des Vaters im Umgang mit der von
den Kindern geliebten Mutter und tumultartiger Auftritte der Einwohner vor dem
Pfarrhaus in Ankershagen. Es ist verständlich, dass sich Schliemann über die nä-
heren Umstände der die Familie betroffenen Schicksalsschläge öffentlich nicht
geäußert hat. Die Schwestern, denen Heinrich das Manuskript seiner Autobiogra-
phie vor dem Druck zu lesen gegeben hatte, konnten ihn nicht daran hindern, das
„Misgeschick“
zu erwähnen, als alle Bekannten nach dem Tod der Mutter ihnen
den Rücken gekehrt hatten. Die Erinnerung an die damaligen traumatischen Ge-
schehnisse im Elternhaus und deren Bekanntmachen wird ihnen äußerst peinlich
gewesen sein. Das trifft auch auf die Passagen zu, in denen Schliemann euphorisch
über seine Kindheitsliebe zu Minna Meincke berichtet, an die sich seine älteren
Schwestern nicht erinnern konnten und die er doch besser weglassen sollte.
Nach der Auswertung des Briefwechsels vertieft sich das negative Bild von Schlie-
manns Vater, der ohne Rücksicht auf sich und seine Familienangehörigen nur seinen
egoistischen Interessen nachgeht. Ihnen opfert er seinen Ruf, seine Karriere, seine
Ehe, seine Ehefrau, seine Kinder – ein Mensch voller Vitalität, Intelligenz und Ver-
schlagenheit, der am Ende seines Lebens – er wird 90 Jahre alt - eine gescheiterte
Existenz ist. Es wird mehr als deutlich, welch ein erheblich gestörtes Verhältnis
Heinrich Schliemann und seine Geschwister zu ihrem Vater hatten. Eine psychi-
sche Verarbeitung des Erlebten hat niemals stattgefunden, wie die Erkenntnisse von
W. Niederland das schon früh bewiesen haben. Auch briefliche Äußerungen der
Schwestern lassen das immer wieder erkennen. „Freudlos und kummervoll war un-
sere Jugend …“, so beurteilte die Schwester Dorothea in einem Brief diese Zeit
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.
Wir lesen aber auch von positiven Rückerinnerungen der Geschwister Heinrich
Schliemanns an ihre Kindheit in Ankershagen. Es war die Zeit, als die von allen
geliebte Mutter noch lebte, als die Ehe noch nicht ganz zerbrochen war. So ver-
wundert es nicht, dass sie in späteren Jahren ohne Ausnahme eine große Sehnsucht
nach ihrem Heimatort und ihrem Elternhaus verspürt haben und sich gegenseitig
ausführlich über ihre Erlebnisse und Eindrücke austauschten, nachdem sie An-
kershagen nach vielen Jahren wieder einmal aufgesucht hatten. Und immer spielt
in ihren Berichten das Grab der früh verstorbenen Mutter auf dem Ankershagener
Friedhof eine besondere Rolle.
Auch Heinrich Schliemann wird ohne Zweifel an jenen Ort, den er sogar gele-
gentlich als seinen „Geburtsort“
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bezeichnet hat, glückliche Erinnerungen gehabt
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Gennadius Library (GL) Serie B, Box 2, Folder 2.
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Schliemann bezeichnet in dem Lebenslauf, den er dem Tagebuch seiner ersten Amerikareise (1850-
1851) vorangestellt hat, Ankershagen als seinen Geburtsort.