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haben. Diese sind bei ihm allerdings erst in späteren Lebensjahren, besonders nach
dem Beginn seiner Ausgrabungen in Troja und seinen sensationellen Grabungs-
funden, in den Vordergrund seines Bewusstseins gerückt – vor allem als er sich mit
dem Schreiben seiner Autobiographie beschäftigt hat.
Wir wissen seit langem, dass Schliemann es mit seiner Autobiographie darauf an-
gelegt hatte, glaubhaft zu machen, dass ihn der kindliche Traum von der Ausgra-
bung Trojas als eine Art Leitidee bis ins hohe Mannesalter begleitet habe, dem er
alle seine späteren Aktivitäten untergeordnet hat. Angesichts der nun bekannten
Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Schliemanns und seiner jahrzehntelangen
Suche nach einem neuen Lebensinhalt müssen wir ihn als nachträgliche Schöp-
fung seiner produktiven Phantasie ansehen.
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Nach dem frühen Tod der Mutter musste der Vater wegen seines unmoralischen
Verhaltens sein Pfarramt aufgeben und Ankershagen verlassen. Er verzog mit den
noch minderjährigen Kindern Louise und Paul nach Gehlsdorf bei Rostock und
heiratete dort seine frühere Hausangestellte Sophie Behnke. Kurze Zeit später zo-
gen sie nach Westpreußen. Wegen der unwürdigen Verhältnisse im Vaterhaus und
der Abneigung zu der Stiefmutter ist es in der Folgezeit selten wieder zu erfreu-
lichen Begegnungen Heinrichs und der Schwestern mit dem Vater gekommen.
Während die jüngeren Schwestern sich mit der Hilfe Heinrichs vom Vater „befrei-
en“ konnten, war es den Brüdern Ludwig und Paul beschieden, die Zustände im
Vaterhaus ertragen zu müssen. Während der willensstarke, nun volljährige Bruder
Ludwig sein Heil gegen den Willen des Vaters in der Auswanderung nach Kalifor-
nien suchte, wo er aber in jungemAlter an Typhus verstarb, musste der vom Vater
und der Stiefmutter gleichermaßen ungeliebte und gedemütigte jüngste Bruder
Paul sein Schicksal bis zum bitteren Ende ertragen. Er sah seinen einzigenAusweg
schließlich im Freitod, von dessen Geschehen wir erstmals erfahren.
Die Geschehnisse um den frühen Tod Ludwigs in Kalifornien und vor allem um
den schockierenden Freitod Pauls und die damit im Zusammenhang stehende von
tiefem Hass geprägte Reaktion des Vaters belasteten das Verhältnis der Töchter
zu ihrem Vater auf unerträgliche Weise zusätzlich. Trotzdem ist es nie zu einem
Bruch, nicht einmal zu einer offen geäußerten Kritik oder gar Schuldzuweisung
der Töchter dem Vater gegenüber gekommen. Die natürliche Achtung der Kinder
vor dem Erzeuger verbot ihnen eine solche Reaktion. Auch ihr Bruder Heinrich
erwartete das von ihnen.
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Wilfried Bölke: „Sie können leben wie Gott in Frankreich“ – Der Briefwechsel Heinrich Schlie-
manns mit dem Warener Kaufmann J. H. Bahlmann. In: Mitteilungen HSM, Heft 9, 2011, S. 219-
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