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Über das Verhältnis Heinrich Schliemanns zum Vater war bisher nur wenig

bekannt. Trotz des gestörten Verhältnisses zu seinem Vater, mit dem ihn eine Art

Hassliebe verband, schreiben sich Vater und Sohn immer wieder auch Briefe vol-

ler Wärme und Dankbarkeit, drängen ihre wahren Gefühle zurück. Die ganze Ska-

la der menschlichen Empfindungen ist in diesen Briefen anzutreffen, sowohl beim

Vater als auch beim Sohn. Konflikte brechen zwar manchmal aus, führen sogar

nach gegenseitigen Anschuldigungen und Beleidigungen zum vorübergehenden

Abbruch des Briefwechsels. Sie werden vom Sohn aber immer dann beigelegt,

wenn der Vater mit schwerer Krankheit und baldigem Tod droht.

Gemeinsamkeiten in der Anlage des Charakters sind trotz aller Gegensätzlichkeit

unverkennbar. Er prägt sich nur unter verschiedenen Vorzeichen aus. Vater und

Sohn sind von ungebändigter Vitalität, besitzen eine hohe Intelligenz und ein star-

kes Temperament, groß ist ihre Ich-Bezogenheit. Während diese Charaktereigen-

schaften beim Vater in Folge seiner innerlichen Haltlosigkeit eine nicht aufzuhal-

tende Spur des Niedergangs ziehen, setzen die gleichen charakterlichen Anlagen

bei Heinrich Schliemann schöpferische Potenzen frei, sowohl als Kaufmann bei

dem Streben nach Gewinn, als auch in seiner zweiten Lebenshälfte als Ausgräber

bei seinem Streben nach Ruhm und Anerkennung.

Den Schwestern gegenüber erwies sich Schliemann zeitlebens als treusorgender,

wenn auch autoritär auftretender Bruder. Heinrich übernahm früh die Rolle eines

„amtierenden Familienoberhauptes“. Besonders Heinrichs Schwestern Elise, Do-

rothea, Wilhelmine und Louise litten anfangs unter dem Makel, Töchter des in

Verruf gekommenen Pastors Schliemann zu sein. Lange Zeit befürchteten sie, aus

diesem Grunde unverheiratet bleiben zu müssen. Bis zu ihrer späten Verheiratung

war es das Schicksal aller Schwestern, von Verwandten aufgenommen zu werden

oder ihr Brot als Gesellschafterinnen oder Haushaltshilfen unter fremden Leuten

zu verdienen. Mit dem Ausspruch „Du wirst unser Erretter sein – denn ohne Dich

ist unser Leben nichts wie Noth u Tod“

19

, brachte die älteste Schwester Elise im

Jahre 1852 die Schwere der Situation zum Ausdruck. Erst die regelmäßige Un-

terstützung ihres reichen Bruders befreite sie von ihren pekuniären Sorgen. Ihre

Dankbarkeit war sehr groß, sie vergötterten ihren Bruder geradezu. Dabei hatten

die Schwestern anfangs ihrem Bruder Heinrich diese Großherzigkeit gar nicht zu-

getraut, den sie als gefühlskalt und „keiner so edlen Gesinnung fähig“

20

in ihrer

Erinnerung behalten hatten.

19

Brief von Elise aus dem Jahre 1852 (ohne Datumangabe), GL Serie B, Box 2, Folder 5.

20

Brief vom 21. 3. 1848 aus Ramelow, GL Serie B, Box 3, Folder 1.