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ohne jedoch ein Wort oder Gruß an sie zu richten, was Wilhelmine sehr verletzt
hat. Sie wartete auch weiter vergeblich auf eine positive Reaktion auf die von
ihm erbetene Zustimmung zur Heirat, die der Vater bereits erteilt hatte. Sie ahnte
nicht, dass ihr Bruder große Vorbehalte gegenüber Wilhelm Kuhse hatte. Er hielt
ihn für einen Taugenichts, weil er mit 31 Jahren noch immer keine feste Stellung
hatte und war überzeugt, dass dieser Wilhelmine nur wegen des Geldes heiraten
wollte. Außerdem brachte er kein Verständnis dafür auf, dass Wilhelmine noch
im Alter von 34 Jahren das Verlangen hatte, zu heiraten, wo sie doch durch sei-
ne Rente gut versorgt wäre. Der Vater versuchte Heinrich umzustimmen, auch
die Schwestern verteidigten Wilhelmines Bräutigam. Wilhelm erhielt schließlich
eine Stelle als Lehrer für Naturwissenschaften an einer Realschule in Kulm an
der Weichsel (Westpreußen), unweit von Dtsch. Eylau, wohin sie bald hinziehen
und beim Vater nach dem Rechten sehen wollten.
Heinrich konnte seine Vorbehalte gegenüber Wilhelm Kuhse noch lange Zeit
nicht aufgeben, er überhäufte seine Schwester weiterhin mit Vorwürfen und
kränkte sie aufs Tiefste. Wilhelmine heiratete am 11. 8. 1854 in Patzig auf Rü-
gen, Heinrich sagte seine Teilnahme aus zeitlichen Gründen ab und übersand-
te 150 Rt. Wilhelmine zog danach zu Wilhelm nach Kulm. Anfang 1856 trafen
bei allen Schwestern, auch der ledigen Elise, Geldwechsel in Höhe von 2000 Rt
ein. Die Schwestern reagierten angesichts dieser großen Summe dankbar und
überglücklich: „ … was wären wir jetzt ohne Dich, heimathlos hätten wir unser
Leben dienend unter fremden Menschen hinbringen müssen, Gott war aber so
sichtlich mit Dir und uns. Er segnete Dich so reich, so daß Du eine Stütze für die
armen Deinigen wardst, aber Gott gab Dir auch dies edle Herz gegen die Deinen“,
schrieb ihm Dorothea.
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Nachdem Heinrich Schliemann seinen Schwager persönlich kennen gelernt hatte,
entwickelte sich zwischen beiden ein auf eine gegenseitige Achtung beruhendes
Freundschaftsverhältnis. Wilhelm wurde sein Lieblingsschwager. Beide standen
ein Leben lang in einem intensiven Briefwechsel und Meinungsaustausch, zu-
nehmend auch über naturwissenschaftliche und geschichtliche Fragen. Wilhelm
interessierte sich auch für die späteren Reisen und Grabungen seines Schwagers
und machte, wenn auch sehr vorsichtig, gelegentlich kritische Bemerkungen.
Das belegen die erhaltenen 185 Briefe von W. Kuhse. Dieser redete Heinrich mit
„mein lieber Bruder“ an und der Schwager adressierte die Post an „Herrn Profes-
sor Kuhse“, was dem bescheidenen Schwager sehr peinlich war. Wilhelm Kuhse
erhielt einige Jahre später eine Stelle als Gymnasiallehrer in Lyck in Ostpreußen,
wohin dann 1860 auch der Vater und die ledig gebliebene und ewig kränkelnde
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E.Meyer, Heinrich Schliemann, Briefwechsel Bd.1, S.79




