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Dorothea bat Heinrich auch eindringlich, auf den Vater einzuwirken, dass er ih-
ren unglücklichen und vom Vater nicht geliebten 18-jährigen Bruder Paul
bei
einem tüchtigen Landmann in die Lehre geben solle, dieser wolle das gerne, aber
Vater lasse es nicht zu! Und sie beendete ihren Brief voller Verzweiflung mit
folgenden Worten: „Ach mein Heinrich warum sind unsere Verhältnisse auch so
schrecklich – daß wir lieber das väterliche Haus meiden und unser Brod unter
fremden Leuten essen und uns verdienen als zu Hause zu sein, wie gerne möchte
ich bleiben wenn es möglich wäre, aber die Verhältnisse sind nun einmal so und
nicht anders! – Freudlos und kummervoll war unsere Jugend, - und wohl uns daß
die Zukunft uns noch verborgen ist!“
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Und Heinrich reagierte umgehend. Er schlug dem Vater vor, Paul zum Erlernen
des kaufmännischen Berufes nach Amsterdam zu schicken. Die Reaktion des
Vaters auf solcherlei ihm unangenehme Anliegen war symptomatisch, denn er
wollte Paul unbedingt zu seiner Unterstützung bei sich behalten. In seiner um
zwei Monate verzögerten Antwort teilte er ihm mit, dass Paul sich wegen der
hohen Erwartungen des Bruders an ihn nicht habe entschließen können, nach
Amsterdam zu gehen. Er wolle sich der Landwirtschaft widmen und er werde
ihn daher auf einem benachbarten Gute unterbringen. Heinrich gab sich mit der
Antwort nicht zufrieden. Er wollte sich jetzt persönlich um seinen jüngeren Bru-
der kümmern und ihn nach St. Petersburg kommen lassen. Seine Vorstellungen
teilte er ihm detailliert mit. „Schickt sich Paul gut und will er für immer in St.
Petersburg bleiben, so verheyrathe ich ihn nach 5 oder 6 Jahren mit einer kleinen
Russin, die etwas Vermögen besitzt, und sorge, daß er hier sein Auskommen hat
… Ich versichere Dich, daß ich als Vater und Bruder über Paul wachen will und
derselbe niemals in Noth kommen soll.“
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Tatsächlich bekam Paul eine Stelle als Hilfsaufseher im benachbarten Gut Schön-
berg. Aber nur kurze Zeit später teilte Paul seinen Geschwistern mit, dass er am
1. Oktober 1851 seine Arbeitsstelle auf dem Gut Schönberg verlassen habe, um
dem Vater bei seiner Gast- und Landwirtschaft behilflich zu sein. Er führe nun
mit der Stiefmutter Sophie die Gastwirtschaft und den Laden, weil diese allein
nicht beide Geschäfte führen könne, der Vater sei kränklich. Die Reaktion der
Schwestern ließ nicht lange auf sich warten. Wilhelmine formulierte sie so: „Ist
es nicht traurig, daß dieser arme junge Mensch, der die schönsten Anlagen und
Fähigkeiten hat, da in diesem schrecklichen Haus so versauern muß?“
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Hein-
rich hatte wiederholt von seinen Schwestern erfahren, wie sehr Paul unter den
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GL Serie B, Box 2, Folder 2 / 1636
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E. Meyer, Heinrich Schliemann, Briefwechsel Bd.1, S.37f.
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GL Serie B, Box 7, Folder 7 / 6943




