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Und was war mit Minna im Jahre 1846?
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Wout Arentzen
„Als wir einander in die Augen sahen, brachen wir beide in einen Strom von Thrä-
nen aus und fielen, keines Wortes mächtig, einander in die Arme ... Jetzt war ich
sicher, dass Minna mich noch liebte, und dieser Gedanke feuerte meinen Ehrgeiz
an: von jenem Augenblick an fühlte ich eine grenzenlose Energie und das feste
Vertrauen in mir, dass ich durch unermüdlichen Eifer in der Welt vorwärts kommen
und mich Minna‘s würdig zeigen werde.“
2
Im Jahr 1861 erklärte Schliemann in einem Brief Minnas Bedeutung für ihn wie
folgt:
„Als ich in Armuth und Unglück war, verbot mir der Stolz, nach ihr zu fragen; die
Hoffnung, sie erlangen zu können, wenn ich reich würde, feuerte meine Energie an
und bahnte mir den Weg zu Vermögen und Ansehen.“
3
Vor etwa zwanzig Jahren wurde eine große Diskussion über den Wahrheitsgehalt
von Schliemanns autobiografischen Aussagen geführt. War er ein pathologischer
Lügner oder nicht? Es war klar, dass einiges von dem, was er geschrieben hat,
nicht ganz im Einklang war mit dem, was wahrscheinlich passiert war. Hierdurch
entstand die Frage, wie man Schliemanns Selbstbiografie lesen und deuten soll.
Es gab einige, die der Meinung waren, dass Schliemann seinen autobiografischen
Äußerungen nur mit dem Blick auf seine zukünftige Biografen getan hat. Er soll
versucht haben, über seinen Tod hinaus das Bild, das man in der Zukunft von ihm
haben sollte, zu bestimmen. Es spricht für sich, dass man für diese These nie auch
nur den geringsten Beweis gefunden hat.
Die Vermutung, dass Schliemann für ein Publikum geschrieben hat, war aber nicht
falsch. Es waren aber nicht die Leser der Zukunft, die er erreichen wollte, sondern
die Leser seiner Zeit. Aus dem Reisejournal, das er im Jahre 1846 von seiner ers-
ten Europareise anfertigte, erfahren wir sogar genau, für wen es bestimmt war. Er
schreibt darin, dass er es, nach Russland zurückgekehrt, benutzen möchte, um seine
russischen Freunde von seiner Reise zu erzählen. Es war also für ein russisches Pu-
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Ich danke Herrn Dr. W. Bölke dafür, dass er meinen Text ins richtige Deutsch gebracht hat.
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Schliemann 1892, 9.
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Brief an Lentz St. Petersburg, 11. August 1861. Meyer 1953, 109.




