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In der Rückschau und mit einem Abstand von mehreren Jahrzehnten erstaunt

eine so intensiv geführte Diskussion um die Frage nach der pathologischen Lü-

genhaftigkeit Schliemanns, sie erscheint aus heutiger Sicht sogar sekundär. Denn

die Verengung auf diesen Aspekt und damit auf die Dekonstruktion und Entmy-

thisierung des Mecklenburgers – darauf habe ich schon hingewiesen – hat die

Forschung über Jahre hinweg behindert. Rund zwei Jahrzehnte, beginnend mit

Calders Vortrag 1972 und endend mit den großen Schliemann-Konferenzen zum

100. Todestag 1990, bestimmte diese Diskussion in einem gewissen Sinne die

Forschung. Calders (1972, 350) Statement „We must doubt every statement in any

autobiographical document composed by Schliemann, unless an external control

can be adduced to confirm it“ wurde allzu wörtlich genommen – die Suche nach

Schliemanns Unwahrheiten stand fortan im Zentrum des Interesses und damit

die Suche nach weiteren „Nadeln im Heuhaufen“ im riesigen Athener Nachlass,

von denen die eine oder andere auch tatsächlich entdeckt wurde.

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Mit dem kurzen Rückblick in die Vergangenheit sollte gezeigt werden, welch prä-

genden Einfluss die Arbeiten Calders und Traills auf die Schliemannforschung

besaßen – und zwar sowohl im positiven als auch negativen Sinn: positiv dahin-

gehend, dass mit bis dahin gängigen Klischees und Stereotypen über Schliemann

aufgeräumt wurde; negativ in dem Sinne, dass man sich in den 1970er und 1980er

Jahren allzu sehr auf das Auffinden neuer „Lügengeschichten“ des Selfmademan

fixierte. Eine Zäsur setzte erst mit den Kongressen zu Schliemanns 100. Todes-

tag ein. Gipfelte auf der Berliner Tagung

Heinrich Schliemann: Grundlage und

Ergebnisse moderner Archäologie

(1990) die Auseinandersetzung um die Schlie-

mannsche Glaubwürdigkeit einerseits noch in der von Traill und Easton geführ-

ten Diskussion um den „Schatz des Priamos“, so deuteten andererseits bereits

diese Veranstaltungen eine Neuausrichtung der Forschung an. Es rückte etwa die

Frage nach der wissenschaftlichen Leistung Schliemanns in den Vordergrund;

auch begannen jetzt zeitgenössische Aspekte – und damit die Beschäftigung mit

Schliemann in seiner Zeit – und die Schliemann-Rezeption eine Rolle zu spie-

len, kurz: Man näherte sich ihm nun auch unter anderen Gesichtspunkten. Dass

dieser sich andeutende Perspektivenwechsel jedoch ins Stocken geriet und aus

heutiger Sicht lediglich als Intermezzo bezeichnet werden kann, hat verschiedene

Gründe. Einer liegt darin, dass das Interesse an Schliemann nach den großen

Tagungen im Jubiläumsjahr verebbte – das ist jedenfalls mein Eindruck. Er lässt

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Beispielsweise: Schindler 1976; Richter 1980; Lehrer 1989; Lehrer/Turner 1989; Keyser 1990.