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Schliemann nahm es mit der Wahrheit also offenbar nicht so genau. Calder (1972,
343) resümierte: „Schliemann created for himself in his diaries and letters a fan-
tasy-life. His autobiography is not historical truth. It is a
Wunschbild
, a picture
that he had created of himself and that he wished posterity to accept.“
In den Fokus der kritischen Betrachtung gerieten damals zum ersten Mal auch
die Biographen Emil Ludwig sowie besonders Ernst Meyer. Beide besaßen ge-
genüber ihrem Forschungsobjekt eine gewisse hagiographische Bewunderung,
wenngleich Ludwigs Schliemann-Biographie (1932) imDuktus deutlich kritischer
ausfällt als die wissenschaftliche Biographie Meyers oder gar der Lebensroman
von Stoll. Ludwig führte durchaus Ereignisse und Erlebnisse an, die sich das eine
oder andere Mal als wenig schmeichelhaft für Schliemann entpuppten. Dies wur-
de von einigen Weggenossen Schliemanns, unter anderem Wilhelm Dörpfeld,
beanstandet; sie sahen in seiner Biographie einen Affront, rückte er den Heros
doch an einigen Stellen in ein zwiespältiges Licht (dazu Calder 1990, 368 f.).
Ludwig bediente mit seinem 1932 erschienenen Buch aber auch das Klischee des
goldsuchenden und glücklichen Entdeckers, dessen Ziel es von Kindheit an war,
Troia auszugraben. Anders als Ludwig verzichtete Ernst Meyer (1969) in seiner
mit Fußnoten und Quellenangaben gespickten Biographie
Heinrich Schliemann:
Kaufmann und Forscher
auf eine kritische Bewertung der Selbstzeugnisse seines
Helden. Mittlerweile ist bekannt, dass Meyer, der schon in den 1930er und 1950er
Jahren verschiedene Briefeditionen Schliemanns vorlegte (Meyer 1936; 1953;
1958), vor Auslassungen ganzer Briefpassagen nicht zurückschreckte, um da-
durch das positive Bild Schliemanns zu erhalten.
5
Calder (1972, 350) resümierte
vor soviel unkritischer Bewunderung treffend: „The mendacity of Schliemann is
exceeded only by the gullibility of his biographers“.
Folgen der Dekonstruktion
Dass wir heute deutlich mehr über Schliemann wissen, verdanken wir zweifels-
ohne der kritischen Schliemannforschung. Die Beschäftigung mit den schriftli-
chen Zeugnissen des archäologischen Pioniers, das haben die neuen Arbeiten seit
den siebziger Jahren unmissverständlich gezeigt, bedarf eingehender Quellenkri-
tik und einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber den Schliemannschen Selbst-
zeugnissen. Der Mythos, an dem der archäologische Laie selbst schon zu seinen
Lebzeiten arbeitete und an dem auch seine frühen Biographen nach seinem Tod
5
Siehe auch Calder (1990, 372): „
Meyer’s
book is far more pernicious than
Ludwig’s
because
Meyer sugars with what Ludwig eschewed: documentation, both in his notes and in the three
volumes of edited correspondence“. Zu Meyer auch Kennell 2007; Zavadil 2009, 15 f.




