Background Image
Previous Page  123 / 240 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 123 / 240 Next Page
Page Background

123

Die eingehende Beschäftigung etwa mit Emil Ludwig (1881–1948), einem der

bedeutendsten Vertreter der sogenannten „Historischen Belletristik“

22

– einer in

den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg beim Publikum äußerst beliebten literari-

schen Gattung –, hat in der Schliemannforschung bis heute nicht stattgefunden.

Dabei zeigt dieses Beispiel, wie wichtig es ist, sich intensiver mit den Biographen

und ihrer Zeit zu beschäftigen, also über das Etikett „gute“ oder „schlechte“

Biographie hinauszukommen. Als Ludwig, der kein Historiker war, die Schlie-

mann-Biographie schrieb, war er bereits weltberühmt; er hatte schon etliche

erfolgreiche Biographien beispielsweise über Goethe, Napoleon, Wilhelm II.

und Bismarck verfasst, die alle den gleichen Kunstgriffen folgten: Verdichtung,

Dramatisierung und Spannungssteigerung (Porombka 2009, 125).

23

Ludwig und

vielen anderen populären Biographen ging es nicht darum, wissenschaftliche

Biographien zu schreiben und damit etwa neue Quellen vorzulegen; ihr Ziel war

es vielmehr, anhand des vorhandenen Quellenmaterials die Innenwelt ihrer Pro-

tagonisten abzubilden. Sie bezogen daher die Ergebnisse der noch jungen Wis-

senschaft Psychologie in ihre Analyse mit ein – man könnte die Bücher daher

heute auch als „dokumentarische Psychographien“ (Perrey 1992, 175) bezeich-

nen.

24

Die akademische Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik stand

solchen Biographien wegen ihrer allzu starken psychoanalytischen Herange-

hensweise ablehnend gegenüber. Ihre Bücher wurden von der Zunft als „illegiti-

me“ Form der Geschichtsschreibung verunglimpft (siehe z. B. Mommsen 1930).

Es dürfte sich also durchaus lohnen, Ludwigs Schliemann-Biographie vor dem

Hintergrund der „Historischen Belletristik“ der Weimarer Zeit zu analysieren.

Sie stellt zwar ein Spätwerk Ludwigs dar, und auch das für die Gattung typisch

„politisch-aufklärerische Engagement“ (Perrey 1992, 170) tritt hier deutlich we-

niger zu Tage. Sie muss aber dennoch in diesem Zusammenhang gesehen und

im Vergleich mit Ludwigs anderen Biographien sowie darüber hinaus ganz all-

gemein mit populären Biographien dieser Zeit vergleichend analysiert werden.

Schluss

Die letzten Punkte sollten verdeutlichen, dass es noch viele offene Fragen für die

Schliemannforschung gibt. Dabei gilt es, nicht nur neue Quellen zu erschließen,

sondern mit neuen Fragestellungen auch an alte Texte – wie gerade das Beispiel

22

Ausführlich zur „Historischen Belletristik“ – übrigens ein von den Gegnern der populären histo-

rischen Biographien eingeführter Kampfbegriff – siehe Gradmann (1993).

23

Ludwig schrieb in den 1930er Jahren: „Der Forscher findet, der Romancier erfindet, der Biograph

empfindet“ (Ludwig 1936, 142).

24

Ähnlich Porombka (2009, 125), der die populären Biographien der Weimarer Zeit als „psycholo-

gische Charakterkunde“ umschreibt.