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wissenschaftliche Biographie Meyers aus dem Jahr 1969 ist in dieser Hinsicht
problematisch, bleibt sie doch weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Schließ-
lich kannte bis dato kaum ein Forscher die Quellen so gut wie Ernst Meyer, der
– wie Stefanie Kennell (2007) kürzlich dargelegt hat – über Jahrzehnte gleichsam
ein Monopol auf den seit 1936 in der Athener
Gennadius Library
aufbewahrten
Schliemann-Nachlass besaß und es vehement gegenüber anderen Forschern zu
verteidigen suchte.
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Im Folgenden möchte ich zunächst in aller Kürze die bereits im Titel als „Dekon-
struktion“ bezeichnete Zeit der Schliemannforschung skizzieren, um in einem
zweiten Teil auf die Folgen einzugehen. Im dritten Abschnitt möchte ich dann
einen Ausblick auf mögliche Problemfelder innerhalb der Schliemannforschung
geben und zugleich das in ihnen liegende Potential für zukünftige Vorhaben auf-
zeigen. Dabei soll es nicht nur um Forschungen zur Person und zum Werk Hein-
rich Schliemanns gehen, sondern auch um solche Arbeiten, die von wirtschafts-,
medien- und wissenschaftshistorischem Interesse sind.
Dekonstruktion eines Mythos
Es waren die beiden Amerikaner William Calder III (z. B. 1972; Calder/Traill
1986) und David A. Traill (z. B. 1979; 1983; 1985), die in den siebziger und acht-
ziger Jahren des 20. Jahrhunderts das bis dahin recht positive, von Schliemann
durch seine Selbstbiographie geprägte und von seinen Biographen weitgehend
tradierte Bild zurechtrückten.
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Calders am 6. Januar 1972 zum 150. Geburtstag
des Autodidakten in Neubukow gehaltener Vortrag gilt als Wendepunkt in der
Schliemannforschung, da er darin eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten in
Schliemanns autobiographischen Angaben benannte. Der Stein war ins Rollen
gebracht, und die kritische Schliemannforschung nahm ihren Anfang; sie erreich-
te ihren Höhepunkt zum 100. Todestag des archäologischen Entdeckers 1990.
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Es wäre müßig, im Folgenden die allseits bekannten und von der Forschung in-
zwischen aufgedeckten Unwahrheiten Schliemanns
en detail
aufzuführen. Ich
möchte lediglich einige wenige Beispiele anführen, die deutlich machen sollen,
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Erst 1962 kaufte die
American School of Classical Studies
(Athen) den Nachlass von den
Schliemann-Erben an. – Manfred K. H. Eggert danke ich für die kritische Lektüre des
Manuskriptes.
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Zu den (Auto-)Biographien und ihren Autoren siehe zusammenfassend Calder 1990; Kennell
2007.
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Zu den Anfängen der kritischen Schliemannforschung knapp auch Schindler (1992a). – Mehrere
Sammelbände erschienen Anfang der neunziger Jahre nahezu gleichzeitig: Calder/Cobet 1990;
Cobet/Patzek 1992; Herrmann 1992.




