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– wissentlich oder unwissentlich – strickten, wurde mit den Arbeiten von Calder

und Traill dekonstruiert: Der Heros wurde vom Sockel gestoßen und in ein völlig

neues und gegenüber der früheren Forschung anderes Licht gerückt.

Calders quellenkritisch vorbildliche Arbeit war damals in zweierlei Hinsicht

revolutionär: Er war nicht nur der Erste, der an einem Mythos zu kratzen be-

gann; für weit mehr Furore sorgte überdies sein Schluss, man könne nicht umhin,

Schliemann als pathologischen Lügner zu bezeichnen.

6

Damit trat er eine Lawine

los, die die Schliemannforschung zwar grundlegend veränderte und erneuerte,

sie aber zugleich ungewollt auf einen Aspekt einengte und meines Erachtens da-

mit letztlich auch für einige Jahre blockierte.

Es war in der Folge besonders David A. Traill, der in den 1980er Jahren Schlie-

manns Selbstzeugnisse auf „Herz und Nieren“ prüfte und weitere Phantastereien

und Unwahrheiten ans Licht brachte.

7

Zunehmend gab es jedoch Kritik an Traills

Vorgehen, das als zu einseitig – lediglich auf die Desavouierung Schliemanns

ausgerichtet – betrachtet wurde;

8

einige Forscher warfen ihm daher einen Hang

zur Obsession vor. Zu ihnen gehörte auch Donald F. Easton (z. B. 1994a), der sich

mit Traill in den 1980er und 1990er Jahren in zahlreichen Beiträgen einen erbit-

terten, aber fairen „Kampf“ um Schliemanns Glaubwürdigkeit lieferte.

9

Seine

Lesart der Quellen war eine andere: Er wies darauf hin, dass Unstimmigkeiten in

den Selbstzeugnissen einerseits nicht zwangsläufig auf pathologische Lügenhaf-

tigkeit hinweisen müssen, und dass andererseits diese recht einseitige Deutung

Schliemanns fraglos zwiespältigem Charakter nicht gerecht würde (Easton 1984,

203).

10

Anstatt sich in Details zu verrennen, sei es wichtiger, alle Zeugnisse in den

Blick zu nehmen und differenzierter zu urteilen. Traill, so schrieb er, sehe den

Wald vor lauter Bäumen nicht (Easton 1994a, 456).

6

Calder spricht von „pathological liar“ (1972, 352) oder auch „pathological mendacity“ (ebd. 344).

7

Einen guten Zugriff auf die Arbeiten Traills hat man über seine Textsammlung „Excavating

Schliemann“ (Traill 1993).

8

Beispielsweise Bloedow 1988; Carvalho 1995; Easton 1994a. – Speziell Traills Beitrag

„Schliemann’s Acquisition of the Helios Metope and His Psychopathic Tendencies“ (1986) wurde

kritisiert. Traill versucht darin in systematischer Manier – basierend auf sozial-psychologischen

Erkenntnissen –, Schliemann als psychopathische Persönlichkeit darzustellen. Schindler (1992b,

139) kommentierte diesen Beitrag in der Rückschau folgendermaßen: „Unfortunately, this paper

has damaged the critical investigation of Schliemann“. Bereits Calder (1972, 348; 349) verwen-

dete den Begriff „psychopathy“. Sowohl Calder als auch Traill dürften durch die Studien des

Psychiaters W. G. Niederland (1965; 1971) über Schliemann zu ihren Deutungen inspiriert wor-

den sein.

9

Siehe z. B. Easton 1981; 1984; 1992; 1994b; 1998.

10

Ähnlich auch Schindler 1992b, 138 f.