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Informationsblatt 29 April 2018
Beiträge und Berichte
zusammen und jeden Augenblick erwartete ich meinen Tod.
Das Krachen des Schiffes nahm immer mehr zu und mit jeder
anrennenden Welle sank das Schiff mehr und mehr. Der Kapi-
tän hatte vollständig das Kommando über seine Crew verloren
und alles war in Konfusion und Schrecken. Der eine schrie,
der andere betete, der andere lästerte Gott, der andere bemühte
sich, sich Mut anzutrinken. Einige von der Crew versuchten
das große Boot flott zu machen, aber ihre Verwirrung war so
groß, dass sich das Boot senkrecht aufstellte und natürlich so-
fort von den Wellen verschluckt wurde. Das zweite Boot sollte
an der Luv-Seite klargemacht werden, aber durch die Wucht
der Wellen zerbrach es sofort in Stücke. So blieb für uns nur
das schmale Sternboot [am Heck, R. W.], das zwischen zwei
Masten befestigt war und nur im Extremfall gebraucht wur-
de. Durch das immense Hin- und Her-Schleudern des Schiffes
läutete die Schiffsglocke ununterbrochen und ihre klagenden
Laute schienen unser Wassergrab anzukündigen. So harrten
wir in dieser schrecklichen Lage etwa zwei Stunden aus, als
der Kapitän und die Crew ihre Zuflucht in den Masten such-
ten. Es war eine sehr dunkle und sehr kalte Nacht und Schnee
fiel in feinen Flocken auf uns herab. Plötzlich legte sich das
Wrack auf einer Seite komplett auf eine Sandbank und zer-
barst in wenigen Sekunden in tausend Stücke. Als dieser ent-
scheidende Moment eingetreten war, warf sich die Crew in das
Sternboot. Ich stürzte mich kopfüber ins Wasser und wurde
vom zweiten Matrosen in das Boot gezogen. Die Seile, die
das Boot an den Masten festhielten, gingen kaputt, und eine
gewaltige Welle nahm uns mit. Wie ein Federball wurden wir
über die berghohenWellen geworfen, deren kalte Gischt konti-
nuierlich auf uns spritzte, und mit den Händen schaufelten wir
das Wasser aus dem Boot. Zwei aus der Crew ertranken. Wir
waren 14 Personen in dem schmalen Boot, und es war tatsäch-
lich ein Wunder, dass wir nicht untergingen, denn wir hatten
kaum eine Handbreite voneinander Platz. Wir hatten keine Ru-
der und waren ein Spielball imWind. Mit Schrecken schauten
wir auf jede Welle, die unser Boot zu verschlucken oder zum
Kentern bringen drohte. In dieser schrecklichen Situation ver-
brachten wir 7 Stunden. Dann wurden wir durch die Wogen
auf den Strand der Insel Texel geworfen, deren Einwohner ge-
schäftig bemüht waren, zu stehlen, was vom Schiff und seiner
Ladung angespült wurde. Ein kleiner Wagen wurde organisiert
und wir wurden zum Haus des Holländers Jan Brans gebracht,
wo ein großes Feuer im Kamin angezündet wurde, und wir
erhielten Kaffee und Schwarzbrot. Der Hauseigentümer gab
mir ein Paar großer Holzschuhe, eine alte zerrissene Leinen-
hose und eine Nachtmütze. Wir blieben drei Tage bei ihm. Ich
fühlte mich nach dem Schiffbruch nicht krank [trotz] Verlust
von drei Zähnen, die mir auf diese oder jeneWeise ausgeschla-
gen waren; [sonst] musste ich mich nicht über eine Verletzung
beklagen. Am 15. Dezember wurden wir aufgefordert, in ein
anderes Dorf auf der Insel zu gehen, „Burg-Texel“ genannt,
wo die Konsuln Sonderdorp & Ram leben. Letzterer sagte mir,
dass ich am folgenden Tag zusammen mit der Crew [die Rei-
se] über Harlingen und Hage nach Hamburg fortsetzen solle,
aber ich bestand darauf, nach Amsterdam zu gehen. Sie waren
zuerst dagegen, stimmten dann aber zu und gaben mir einen
Brief an den mecklenburgischen Konsul in Amsterdam, na-
mens Quack, mit. Entsprechend ihren Anweisungen verließ
ich am nächsten Morgen auf einem kleinen Schiff [die Insel]
in Richtung der Hauptstadt der Niederlande.
Der Gegenwind hielt uns drei Tage in der Zuydersee fest und
da der Frachter weder Bett noch Ofen an Bord hatte, litt ich
fürchterlich in meiner Kleidung. Am 17. hielten wir in Enk-
huizen an und erreichten Sonntagmorgen, dem 19. Dezember,
Amsterdam. Ich ging sofort mit meinem Brief zum Konsul,
aber als ich die Hausglocke läutete und die Bedienstete öff-
nete, dachte sie wegen meiner schlechten Kleidung, ich wäre
ein Bettler und schloss sofort die Tür. Ich läutete wieder und
sobald die Bedienstete öffnete, warf ich meinen Brief in den
Korridor und schrie gleichzeitig, dass sie ihn dem Konsul ge-
ben soll. Sie tat es, worauf mir der Konsul 2 Gulden (ungefähr
ein Silberrubel) überbringen und mich darüber informieren
ließ, dass ich mich nicht wieder an ihn zu wenden brauche.
Ich ging zum Schiffer zurück, der mich aus Texel gebracht
hatte und der mir die Seemannskneipe in der Raamkooy-Stra-
ße empfahl, in die ich eincheckte und 2 Tage für 1 Gulden
pro Tag untergebracht war. Als ich nun das Geld vom Konsul
verbraucht hatte, befand ich mich in einer extremen Situation,
weil die Wirtin der Kneipe, Witwe Graalman, bemerkte, dass
ich kein Geld mehr habe und wünschte, mich loszuwerden. Ich
war ratlos, was ich in meinem Zustand völliger Armut begin-
nen sollte, im tiefen Winter ohne Mittel für meinen Lebens-
unterhalt. In diesem Dilemma griff ich zu einem Trick und
täuschte vor, krank zu sein. Ich bat die Wirtin nach dem Kon-
sul zu schicken und für mich eine Einweisung in das Kranken-
haus [gasthuis op de Ouderzydsachterburgwall] zu erhalten.
Die Wirtin, die befürchtete, dass ich wirklich krank wäre, und
dass sie von der Polizei gezwungen werden könnte, mich bis
zu meiner Genesung zu behalten, beeilte sich, mir die besagte
Einweisung zu beschaffen und am selben Tag wurde ich im
Hospital aufgenommen und bekam das Bett Nr. 66.
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Bereits am Tag meiner Ankunft auf der Insel Texel hatte auf
meine Bitte hin der Kapitän des Schiffes Mr. Wendt in Ham-
burg geschrieben, ihm meine Absicht, nach Amsterdam zu ge-
hen, mitgeteilt und ihn gebeten, mir ein Empfehlungsschrei-
ben für diesen Ort zu schicken. Es fügte sich, dass Mr. Wendt
den Brief erhielt, als er mit einer großen Zahl von Freunden
beim Bankett saß; Mr. Wendt las den Brief laut vor und führte
gleich eine Sammlung zu meinen Gunsten durch, die 240 Gul-
den (oder ungefähr 130 Silberrubel) erbrachte. Dieser recht-
schaffene Mann sandte mir das Geld in einem Kreditbrief der
Herren Kleinwort Gebrüder Hamburg über die Herren Hoyack
& Co. Amsterdam. Diese erfuhren vom Konsul Quack, dass
ich im Krankenhaus war; und sofort sandten sie zu mir, um
mich über mein freudiges Schicksal zu informieren. Nachdem
ich acht Tage im Krankenhaus gelegen hatte, wo ich die glück-
liche Nachricht erhielt, ging ich sofort zum Büro der Herren
Hoyack & C., die mir etwas Geld auf Rechnung von meinem
Hamburger Kredit auszahlten und mir einen Platz als Bürojun-
gen im Kontor der Herren Schröder & Co. beschafften.
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Ich
kaufte mir einige Hemden und einen Anzug [suit of clothes]
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Der Autor lässt selten solche Details aus, wie die Nummer seines Hotelzim-
mers, die Höhe der Rechnung, den Eisenbahnfahrpreis und die Ankunfts-
und Abfahrtszeiten von Schiffen und Zügen. Widerwillig, den Text [dadurch]
zu verstümmeln, habe ich diese auf Kosten des Lesers belassen, weil sie die
Persönlichkeit des Schreibers widerspiegeln.
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Nach dem Bericht in
Ilios
(S. 9) war seine erste Anstellung im Büro von F.
C. Quien, wo er in dieser Zeit fleißig Sprachen erlernte. Von hier „springt“
[skips] er 1844 zur Beschäftigung als Angestellter bei B. H. Schroeder & Co.