Seite 42 Informationsblatt 29 April 2018
Nachdem ich 6 Jahre in diesem sehr miserablen Geschäft dien-
te, geschah es, dass mein Vater, der mittlerweile wegen seiner
schwachen Gesundheit und seinem Alter im Ruhestand war
und von der mecklenburgischen Regierung 8.000 Preußen-
dollar in bar statt einer lebenslangen Pension erhalten hatte,
von zwielichtigen Gestalten um dieses Geld gebracht wurde,
indem sie ihm darauf einen hohen Prozentsatz versprachen.
Doch ließen weder sie sich noch eine einzige Kopeke bei mei-
nem Vater wieder sehen. So war er mit seiner ganzen Fami-
lie in einem Zustand völliger Not und im Elend. Zur gleichen
Zeit geschah es, dass beim Hochheben eines schweren Chi-
corée-Fasses ein Blutgefäß in meiner Lunge platzte, und ich
stark Blut spuckte. Das machte mich für alle schweren Arbei-
ten unfähig. Mein Patron, der nun sah, dass ich mit meiner an-
geschlagenen Gesundheit nicht mehr brauchbar für ihn wäre,
nahm für mich einen anderen Lehrling und entließ mich. Trotz
meines geringen Einkommens hatte ich 30 preußische Dollar
gespart, die neben ein paar alten Kleidungsstücken mein gan-
zes Eigentum waren, mit dem ich mich in dieser Welt rühmen
konnte. Halb in Verzweiflung ging ich nach Hamburg, welches
nur 30 deutsche Meilen (oder 210 Werst) entfernt war, und
trotzdem brauchte ich 10 Tage für diese Tour. Als ich am zehn-
ten Tag meiner ermüdenden Fußreise von fern die Kirchtürme
von Hamburg sah, die in großer Distanz voneinander getrennt
waren, was für mich ein Anzeichen für die Größe der Stadt
war, war ich erstaunt und verwundert, und ich glaubte, dass
Hamburg die größte Stadt der Welt ist, und als ich durch das
Stadttor ging, sah ich das große Gedränge und Leben in den
Straßen. Ich hörte nicht auf, voller Enthusiasmus zu schreien:
Oh! Hamburg! Hamburg! Es war der 13. September 1841.
Ich nahm meine Unterkunft in einem kleinen Gasthof in Alto-
na und auf Grund starken Nachfragens bekam ich am 27. Sep-
tember eine Anstellung mit einem Gehalt von 60 Preußendol-
lar im Geschäft von E. L. Lindemann jr. auf dem Fischmarkt in
Altona. Trotz meiner Anstrengungen konnte ich mich meinen
neuenArbeitgebern nicht nützlich machen, weil die Arbeit, die
sie mir auftrugen, zu hart für meine ruinierte Gesundheit war.
Ich spuckte stärker als je zuvor Blut und nach 14 Tagen ver-
geblichen Bemühens, meine Aufgaben zu erfüllen, wurde ich
mit einer Abfindung von einem Dollar wieder entlassen.
Nach vier Wochen vergeblicher Anstrengung, eine neue Situ-
ation zu erhalten [meine Lage zu verbessern, R. W.], wurde
ich Angestellter im Hamburger Geschäft von E. L. Deycke
jr. Mein neuer Arbeitgeber, der sah, dass die Arbeit im La-
den und im Magazin meine Kräfte überforderten, wünschte,
mich in der Buchhaltung und in anderen Schreibgeschäften
zu beschäftigen, aber leider, ich war zu dumm und kaum fä-
hig meinen Namen zu schreiben und so geschah es, dass ich
nach 14 Tagen mit 1 kr[one] 16 s[ilber]gr[oschen] (ungefähr 1
Silberrubel 25 Kopeken) wieder auf der Straße stand. In die-
ser extremen Situation erinnerte ich mich, dass mein Vater mir
von einem gewissen Mr. Wendt erzählt hatte, der einst sein
Schüler war und nun Schiffsmakler in Hamburg ist. Deswegen
wandte ich mich an diesen Gentleman und indem ich ihm mei-
ne miserable Situation schilderte, bat ich ihn, mir einen Platz
als Kabinenjungen an Bord eines Schiffes nach Amerika zu
besorgen. Mr. Wendt, ein sehr gutherziger und braver Mann,
empfing mich sehr freundlich und sagte mir, dass ich wegen
meines Blutspuckens nicht als Schiffsjunge tauge, aber dass er
sich bemühen wolle, mich als Passagier auf dem Hamburger
Schiff „Dorothea“ von Kapitän Simonsen unterzubringen, das
am nächsten Tag nach La Guayra in Venezuela, Südamerika,
abfuhr.
Noch am selben Tag sprach Mr. Wendt mit den Eigentümern
des Schiffes, den Herren Wachsmuth & Krogmann, und es ge-
lang ihm, sie davon zu überzeugen, mich für 20 preußische
Dollar als Passagier auf ihrem Schiff mitzunehmen. Meine ge-
ringen Ersparnisse waren mittlerweile auf 10 Dollar gesunken.
Ich verkaufte meine silberne Uhr für 3 Dollar, erhielt 9 Dollar
für 3 Hemden, einen Mantel und eine Hose. So war ich in der
Lage, die 20 Dollar für die Passage zu bezahlen und für die
verbliebenen Dollar kaufte ich mir eine Matratze und eine De-
cke. Ich ging amAbend desselben Tages an Bord des Schiffes.
Wir fuhren am 24. November 1841 los, mussten aber vier Tage
lang in der Elbe nahe Blankenese wegen Gegenwinds verwei-
len. Endlich, am 28. November um vier Uhr morgens drehte
sich der Wind und wir starteten [nahmen Fahrt auf, R. W.]. Ge-
gen zehn Uhr passierten wir Cuxhaven und bereits gegen zwei
Uhr mittags kam die englische Insel Helgoland in Sicht. Wir
erreichten die Höhen von Helgoland vier Uhr nachmittags, als
plötzlich der Wind von Südost nach Nordwest drehte und uns
zwang, windwärts zu wenden. Gegen Abend kam ein heftiger
Sturm auf, der das Schiff sehr durchschüttelte. Der Sturm hielt
ohne Unterbrechung bis Sonntag, dem 5. Dezember, an und
während all dieser Zeit lag ich leidend an der Seekrankheit
auf meiner Matratze, unfähig irgendwelche Nahrung zu mir
zu nehmen. Am 5. Dezember hatten wir perfekte Windstille,
mein Zustand verbesserte sich, und ich konnte zum ersten Mal
wieder ein paar Nahrungsmittel zu mir nehmen. Aber am 6.
setzte das stürmische Wetter wieder ein und hielt bis zum 11.
unvermindert an. Den ganzen Tag über tobte der Sturm wie
ein Hurrikan und das Schiff schlingerte und schlug enorm auf.
Während unserer ganzen Reise hatten wir niemals die Sonne
gesehen und waren deshalb unfähig, unsere genaue Position
zu bestimmen. Am 11. war der Himmel mit Wolken verhangen
wie nie, erst ab vier Uhr nachmittags lockerten sich die Wol-
ken imWesten ein wenig, und wir sahen für wenige Augenbli-
cke die untergehende Sonne, die in voller Pracht strahlte, als
wünschte sie uns ein letztes Lebewohl.
Bald nachdem die Sonne verschwunden war, wurde es plötz-
lich dunkle Nacht. Ich ging zur Ruhe hinunter und niemals
seitdem wir Cuxhaven verlassen hatten, schlief ich so gut wie
an jenem Abend. Plötzlich (es mochte Mitternacht sein) wur-
de ich durch ein furchtbares Krachen des Schiffes und durch
einen zeitgleichen Aufruf des Kapitäns aufgeweckt: Wir sind
verloren! Retten Sie sich! Zitternd und mit Schrecken sprang
ich von meinem Lager in der Kajüte auf, die halb mit Wasser
gefüllt war, in das ich bis zur Hälfte meines Körpers versank.
Mit größter Mühe erreichte ich die Treppe und kroch an Deck,
wo mich eine ungeheure Welle von der Steuerbord- zur Back-
bordseite schleuderte, und ich wäre unweigerlich über Bord
geworfen worden, hätte ich nicht glücklicherweise die Take-
lage zu fassen bekommen. Ich bemühte mich, wieder auf die
andere Seite zu gelangen, wo ich mich an einem herabhängen-
den Seil festhielt. Ich war fast nackt, nur ein wollenes Hemd
war meine einzige Bedeckung. Die Wellen schlugen über mich
Beiträge und Berichte