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Informationsblatt 29 April 2018
Beiträge und Berichte
Bei der Auswahl einiger Episoden für die Herbstlese aus dem ersten
Amerika-Tagebuch 1850/52 Heinrich Schliemanns stieß ich u. a.
auf diesen Absatz:
„Mein Geschäft geht nun in großem Maßstab vonstatten und mei-
ne Gewinne sind groß. Wenn ich mir in früheren Jahren vorgestellt
hätte, daß ich einmal ein Viertel von dem haben würde, was ich nun
verdiene, so würde ich mich für den glücklichsten der Sterblichen
gehalten haben. Aber jetzt fühle ich mich sehr unglücklich, weil ich
18.000Werst von St. Petersburg entfernt bin, wo all meine Hoffnun-
gen und all meine Wünsche konzentriert sind. In der Tat, inmitten
der Orkane auf den heulenden Ozeanen, in Gefahren und Bedräng-
nissen, in Plackerei und Schwierigkeiten, imWirbelwind der Unter-
haltungen und im Getriebe der Geschäfte ist mein geliebtes Ruß-
land, mein bezauberndes St. Petersburg immer vor meinen Augen.
Während ich hier in Sacramento jeden Augenblick damit rechnen
muß, ermordet oder ausgeraubt zu werden, kann ich in Rußland
ohne Furcht für mein Leben oder mein Eigentum ruhig in meinem
Bette schlafen, denn tausend Augen der Gerechtigkeit wachen dort
über die friedlichen Einwohner. Während nahezu das ganze West-
europa durch drohende Unruhen beständig in Alarmzustand lebt,
leuchtet Rußland (bei weitem das mächtigste und größte aller Rei-
che, die je existiert haben oder existieren werden) im hellen Strahl
ewigen Friedens, dank seinem weisen und sehr ruhmreichen Kaiser
Nikolaus. Nicht ohne unermeßliche Dankbarkeit und Stolz bemerke
ich die große Bewunderung und Verehrung, mit denen die Ameri-
kaner von unserem Monarchen sprechen“
(aus H. S. Amerika-Ta-
gebuch vom 1. September 1851; s. H. A. Stoll. Abenteuer meines
Lebens. Leipzig 1958, S. 106 f.).
Natürlich hielt ich den letzten Satz angesichts der bereits vor ge-
raumer Zeit festgestellten und diskutierten „Ungenauigkeiten“ im
Amerika-Tagebuch auch für eine der vorkommenden Übertreibun-
gen und habe ihn gestrichen – nicht jedoch für zutreffend halte ich
die Vermutung von H. A. Stoll, dem Herausgeber des Sammelban-
des „Abenteuer meines Lebens – Heinrich Schliemann erzählt“, in
einer Anmerkung zu dem Absatz:
„So echt der erste Teil dieser Hymne auf Rußland empfunden ist,
so zweifelhaft klingt der Schluß. Vielleicht war er für die Augen der
Zensur berechnet, vielleicht entstammt er auch Schliemanns politi-
scher Ahnungslosigkeit…“
(Stoll 1958, S. 106).
Durch die weitere Beschäftigung mit dem Thema stieß ich auf ei-
nen Beitrag von David X. Noack (in der „Jungen Welt“ vom 25.
10. 2017, S. 12/13) zur 125-jährigen Geschichte der Kolonie des
Zarenreiches „Alaska“, die 1867 durch den Verkauf an die USA en-
dete, was allgemein bekannt sein dürfte. Was wohl weniger bekannt
ist, ist die Gründung des russischen Forts Ross (abgeleitet von Ros-
sija für Russland) 1812 als Niederlassung der Russisch-Amerika-
nischen-(Handels-)Kompagnie – RAK – in Nordkalifornien an der
Küste des Pazifik im heutigen Sonoma-Country, etwa 145 Kilome-
ter nordwestlich von San Francisco.
„Um die Versorgungslage der russischen Kolonien in Amerika zu
verbessern, beschloss 1808 Gouverneur Baranow, eine Expediti-
on bis an die Nordgrenze Spanisch-Mexikos durchführen zu lassen.
Dort sollte ein Stützpunkt errichtet werden, um mit den Spaniern
Handel zu treiben. Bis dahin war es den Spaniern in Mexiko un-
tersagt, mit anderen Ländern zu handeln, weswegen Franziskaner-
mönche den Schmuggel mit Schiffen organisierten, die in den Buch-
ten Kaliforniens versteckt lagen.
Die spanischen Besitzungen erstreckten sich damals lediglich bis
zur Bucht von San Francisco. 1811 entsandte die RAK ein Schiff,
um ein Fort im Gebiet des heutigen Nordkaliforniens zu errichten.
In der Bodega-Bucht nördlich des Mündungsgebietes des Sacra-
mento-Flusses geschah dies dann ein Jahr später. Die russischen
Siedler begannen mit der Landwirtschaft und Viehzucht – Russen
errichteten die erste Mühle in Kalifornien, die bis heute steht.
Schließlich waren die Bodega Bay und das 30 Kilometer nördlich
errichtete Fort Ross der einzige Teil des Einflussgebiets der Rus-
sisch-Amerikanischen Kompagnie südlich der Anbaugrenze von
Getreide. Darüber hinaus sollte die Expedition ausloten, was die
spanisch-mexikanischen Behörden von einer russischen Präsenz
in Nordkalifornien halten würden. Genötigt durch den Unabhän-
gigkeitskampf der lateinamerikanischen Völker, nicht noch weitere
Konflikte anzuheizen, einigte sich die spanische Regierung mit der
russischen inoffiziell, dass die RAK Fort Ross behalten dürfe“
(aus
der „Jungen Welt“ vom 25. 10. 2017, S. 12/13).
Es gab also in unmittelbarer Nähe zum Aufenthaltsgebiet Schlie-
manns 1851/52 eine russische Niederlassung, was ein allgemeines
Interesse nach der enormen Besiedlung Kaliforniens infolge der
Goldfunde begründen könnte – ungeachtet der Aufgabe der Nie-
derlassung im Jahre 1841:
„Im Jahr 1839 entschied die Russisch-Amerikanische Kompagnie,
Fort Ross aufzugeben. Der Rückgang der Seeotterbestände seit
Mitte der 1830er Jahre machte die Pelztierjagd unwirtschaftlich.
Die landwirtschaftliche Nutzung der Kolonie hatte zudem nicht den
erwünschten Erfolg gebracht. Der Versuch, Schiffbau zu betreiben,
war schon früher gescheitert, und die Erzeugung von Gewerbepro-
dukten konnte die Defizite nicht in genügendem Maße ausgleichen.
…
Im April 1839 stimmte der russische Zar Nikolaus I.
schließlich
dem Vorhaben der Russisch-Amerikanischen Kompagnie zu,
den Stützpunkt Fort Ross aufzugeben und sich aus Kalifornien
zurückzuziehen. Mit der Auflösung wurde
Alexander Rotschew,
Wahrheit oder Fiktion?
Anmerkungen zur Auswahl der zu lesenden Episoden aus Schliemanns erstem
Amerika-Tagebuch 1850/52 für die Herbstlese 2017
Fort Ross 1828 (von Auguste Bernard Duhaut-Cilly, 1790-1849)