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Informationsblatt 29 April 2018
Beiträge und Berichte
Bei der Vorbereitung auf seine traditionelle Herbstlesung am
18. November 2017, in der er Ausschnitte aus Schliemanns
erstem Amerikatagebuch las, wies mich Peter Voppmann dar-
auf hin, dass es für die ersten acht Seiten des Tagebuchs – die
Schliemann diesem zu einem „späteren“ oder „unbestimmten“
Zeitpunkt hinzufügte – keine deutsche Übersetzung gibt. Mir
war das selbst noch nicht aufgefallen, da ich stets die englische
Ausgabe von Shirley H. Weber (Cambridge, Massachusetts
1942) und nicht die deutsche Übersetzung von Heinrich Al-
exander Stoll (Abenteuer meines Lebens, Leipzig 1958 – oder
spätere Auflagen, S. 57-126) benutzte. In der Tat beginnt Stolls
Übersetzung erst mit dem letzten Abschnitt der achten Seite
der Vorrede. Deshalb sei hier
als Service
für jene Mitglieder,
die nicht zur englischen Ausgabe greifen wollen, eine deutsche
Übersetzung nachgeholt. Auf diesen wenigen Seiten zeigt be-
reits der junge Schliemann sein fatales Schwanken zwischen
Dichtung und Wahrheit. Hervorgehoben seien hier nur:
• Die Nennung von Ankershagen als seinem Geburtsort, statt
Neubukow.
• Der Abbruch der Lehrzeit durch Unfall, statt normaler Been-
digung seiner Lehrzeit mit anschließender kurzer Gesellen-
zeit.
• Die ausschmückende Beendigung des Dienstverhältnisses
seines Vaters.
• Der angebliche Fußmarsch nach Hamburg.
• Sehr interessant dagegen ist hier die richtige Darstellung,
dass er nicht als Kajütenjunge (so in der bekanntesten, gro-
ßen Autobiographie von 1880/81), sondern als ein Passagier
auf der „Dorothea“ war.
• In „Ilios“ ist nicht die Rede davon, dass es beim Schiffbruch
im Dezember 1841 vor der Insel Texel Todesopfer gab.
• Etwas kurios mutet an, dass Schliemann in Amsterdam auch
Lektionen in Deutsch nahm (auch wenn wir dabei an „gutes
Deutsch“ und Sicherheit in Orthographie und Grammatik
denken müssen).
Manche Passagen waren nicht einfach zu übersetzen. Stoll
schreibt in seinem „Abenteuer“ (S. 60):
„Weber beschreibt Schliemanns Englisch als ‚excellent‘. Dieser
Auffassung kann man freilich nur mit Einschränkungen zustim-
men. Gewiß, das Grammatische ist in Ordnung, und sprachli-
che Schnitzer finden sich ziemlich wenige – aber der Stil ist
schlechterdings abscheulich. Das liegt nun allerdings nicht an
Schliemanns Englisch, sondern am ganzen Menschen, denn
selbst der größte und voreingenommenste Bewunderer Schlie-
manns wird doch niemals zu behaupten wagen, daß er ein gu-
ter Stilist gewesen wäre. So wie er Kaufmannsdeutsch schrieb,
schrieb er auch Kaufmannsenglisch. Das wird in diesen Auf-
zeichnungen des Achtundzwanzigjährigen noch viel deutlicher
als in den späteren des reifen Forschers, der allmählich auch
einen größeren Wortschatz erworben hat.“
Die meisten Erzählungen dürften dem Leser aus anderen Stel-
len schon bekannt sein. Ich denke da zuerst an den langen Brief
Schliemanns an seine Schwestern (Amsterdam, 20. Februar
1842) und an die Autobiographie in „Ilios“. Auch einzelne Pas-
sagen dieser „Vorrede“ tauchten ab und an in deutscher Über-
setzung auf, doch – wie gesagt – nicht der gesamte Text.
Man mag mir an dieser Stelle verzeihen, dass ich für meine
Übersetzung nicht die neueste Ausgabe von Schliemanns ers-
tem amerikanischen Tagebuch benutzt habe: „Schliemann and
the California Gold Rush. The 1850-1852 American Travel
Journal of Heinrich Schliemann: A Transcription and Transla-
tion, edited by: Christo Thanos and Wout Arentzen. Sidestone
Press Leiden 2014 (The Schliemann Diaries 2)”. Diese oder
auch noch Webers Ausgabe sollten zum Zitieren benutzt wer-
den.
Unser niederländische Freund Wout Arentzen bestätigte mir,
dass er bei der Erarbeitung seiner Edition auch auf keine voll-
ständige deutsche Übersetzung gestoßen ist.
Genug nun der Vorrede! Es folgt nun Schliemanns Erzählung.
Die Anmerkungen im Text stammen von Shirley H. Weber und
sind auch übersetzt worden. Die Einteilung der Absätze wurde
beibehalten:
Ich wurde am 25. Dezember 1821 / 6. Januar 1822
1
in An-
kershagen, einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Schwerin,
Deutschland, geboren, wo mein Vater Pastor war. Wie alle oder
fast alle Pastoren hatte mein Vater neun Kinder und kein Geld
und seine Zeit wurde sehr von seinem Dienst in Anspruch ge-
nommen, er war nicht in der Lage, sich um mich zu kümmern
oder mir irgendeine Ausbildung zu geben. So geschah es, dass
ich zusammen mit den Bauernjungen – meinen Kumpels und
Begleitern meines frühen Lebens – in die Dorfschule des Küs-
ters ging. Ich verlor meine Mutter als ich 9 Jahre alt war. ImAl-
ter von 13 Jahren schickte mich mein Vater als Lehrling in einen
kleinen Krämerladen in Fürstenberg in Mecklenburg-Strelitz.
Hier diente ich 6 Jahre, 4 Jahre als Lehrling ohne Gehalt, das
folgende Jahr als Angestellter mit 28 Silberrubel
2
im Jahr und
das letzte Jahr mit 56 Silberrubel per annum.
Wir machten tatsächlich nur sehr kleine Geschäfte. Die Verkäu-
fe beliefen sich für ein ganzes Jahr auf kaum 4.000 Silberrubel.
Da ich der einzige Mitarbeiter meiner Prinzipale war, musste
ich sehr hart arbeiten. Ich öffnete das Geschäft jeden Morgen
um 4 Uhr, fegte das Erdgeschoss, reinigte den Ladentisch und
die Gewichte, reinigte auch die Schuhe meiner Prinzipale etc.
Mein Lehrherr stand um 8 Uhr morgens auf und während er
seinen Rundgang durch den Laden machte, schickte er mich in
die Brennerei, um hier mit einem Diener Kartoffeln zu mah-
len, oder ich musste irgendeine Arbeit im Keller verrichten.
1
Der erste Teil des Tagebuches wurde einige Zeit später in Russland ge-
schrieben, deshalb benutzt er das Doppelsystem der Datierungen nach al-
tem und neuem Stil.
2
Ein russischer Silberrubel war vor dem Krieg von 1914-1918 ungefähr 50
US-Cents wert, aber seine Kaufkraft war viel größer.
Schliemanns erstes Amerikatagebuch (1850-1852) – Vorrede
(Deutsche Übersetzung von ReinhardWitte)