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mentation – anknüpfen konnte,

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vollzog sich wesentlich während der gemeinsam

mit Virchow verbrachten Zeit in Troja von März bis Anfang Mai 1879.

Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Virchow gewiss nicht der einzige Gelehr-

te war, der diesen Prozess begleitete (vor allem auf Max Müller wäre hinzuwei-

sen

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), dass entsprechende Dispositionen bei Schliemann bereits vorhanden sein

mussten und dass er aller Professionalisiertheit zum Trotz Eigenheiten wie eine

nie ganz überwundene Homer-Fixierung

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beibehielt, wird man die Bedeutung

der katalysatorischen Funktion des Zusammenseins mit Virchow schwerlich über-

schätzen können. Ernst Meyer trifft meines Erachtens den entscheidenden Punkt,

wenn er feststellt: „In jenen Wochen lebte Virchow seinem Gastgeber ohne viel

Worte wissenschaftliches Denken und Verfahren vor“

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, denn die Habitusbildung

als Bildungsprozess (im Unterschied zu einem Lernprozess) vollzieht sich eben

nicht in erster Linie durch explizite Unterweisung, sondern durch das exemplari-

sche Vorleben der Bewältigung wissenschaftlicher Krisen.

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Ein beeindruckendes Dokument des Grades der von Schliemann erworbenen Pro-

fessionalisiertheit findet sich in einem Brief an Virchow aus dem Jahr 1880:

„Bei diesem Werk [Schliemann 1881, M. J.] gehe ich tief ins Studium der kompa-

rativen Archäologie und erschöpfe alle Gegenstände, soweit es in meinen Kräften

liegt. Dabei ist’s mir aber vor allem anderen um wissenschaftliche Wahrheit zu

tun, ja, all mein Denken und Streben ist einzig auf diesen für mich gar gewaltigen

Punkt gerichtet, und sollte es mein Untergang sein, so würde ich doch die Wahr-

heit sagen. Wenn ich daher in den Schweizer Pfahlbauten, unter den Altertümern

aus der Steinzeit in Ungarn und Dänemark analoga finde, so habe ich nichts Ei-

ligeres zu tun, als es zu veröffentlichen, durchaus unbekümmert, ob die trojani-

schenAltertümer dabei zu kurz kommen oder nicht, denn nur auf diese Weise kann

der Wissenschaft gedient werden. Nur so sind, auf Grund meines Buchs, wissen-

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Vgl. Herrmann 1990, S. 68.

36

Vgl. Meyer 1962.

37

Vgl. Wohlleben 1990.

38

Meyer 1955, S. 158.

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Allgemein könnte man davon sprechen, dass der Prozess der Wissenschaftlerprofessionalisierung

zwei entscheidende Sequenzstellen kennt, nämlich zum einen den Entschluss, sich ernsthaft und

bedingungslos einem bestimmten Gegenstandsbereich zu widmen und an diesem sich abzuarbei-

ten, zum anderen die allmähliche Herausbildung eines Habitus. Der Sache nach hat Konrad Zim-

mermann diese Zweizeitigkeit in Bezug auf Schliemann treffend beschrieben: Auf der Mittelmeer-

reise 1868 vollzog sich „die Hinwendung zu einer seinen bisher unbestimmten Betätigungsdrang

kanalisierenden und seine weitere Zukunft bestimmenden Aufgabe“ (Zimmermann 1982, S. 519),

die Reifung zum Wissenschaftler erfolgte aber erst in den Jahren danach „durch eigene Erfahrung

und durch die Hilfe von Freunden und Mitarbeitern“ (Zimmermann 1982, S. 519).