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ließen sich vermehren. Das Interesse an oder auch die Leidenschaft für Wissen-

schaft ist immer konkret, bezogen auf bestimmte Phänomene und Gegenstandsbe-

reiche, und nicht bezogen auf Wissenschaft im Allgemeinen. So wie Schliemann

könnten in der gegenwärtigen Gesellschaft populärwissenschaftliche Zeitschriften

lesende Laien sprechen – sie können für sich reklamieren, ein Interesse an „der

Wissenschaft“ zu haben, während es bei einem Fachwissenschaftler höchst unge-

wöhnlich wäre, würde er sich in dieser Weise äußern.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der von Schliemann an seine Tante

Magdalena Schliemann am letzten Tag des Jahres 1856 geschriebene Brief, in

welchem er eine lateinische Rede seines Freundes Friedrich Lorentz preist, der

Geschichtsprofessor an dem St. Petersburger Pädagogischen Hauptinstitut war.

Er bekennt, Lorentz’ Rede auswendig gelernt zu haben und sie jederzeit reprodu-

zieren zu können, „aber aus mir selbst eine solche Rede zu schreiben oder auch

nur im Stande zu sein, das Allergeringste zu verfassen, das kann ich nicht und

komme leider auch nie dahin, weil mir die

Grundlage ganz und gar fehlt

17

. Er

habe, weil es ihm nicht möglich war, eine Universität zu besuchen, die in ihm vor-

handenen Anlagen nicht ausbilden können, und „jetzt aber bleibe ich mein ganzes

Leben lang in wissenschaftlicher Hinsicht nur ein

Stümper

18

. In demselben Brief

drückt sich aber auch eine ganz andere Haltung gegenüber den Wissenschaften

aus, wenn Schliemann nämlich von dem vagen Plan spricht, „mich entweder ins

ländliche Leben oder in eine Universitäts-Stadt wie z. B. Bonn zurückzuziehen,

mich dort mit Gelehrten zu umgeben u. mich ganz und gar den Wissenschaften zu

widmen“

19

. Hier spricht er wie ein frühneuzeitlicher Fürst, der aus einem Interesse

an den Wissenschaften heraus an seinem Hof Gelehrte um sich versammelt, ohne

selbst einer zu sein. Nimmt man das Geschriebene wörtlich, drückt sich darin eine

eigentümlich paternalistische Phantasie aus, in der sich wie in dem Eingeständnis

des eigenen Stümpertums die faktische Wissenschaftsferne Schliemanns zu dieser

Zeit dokumentiert.

In einem Brief an W. Hepner schrieb Schliemann 1858:

„Sie tun Unrecht, meine Leidenschaft für Wissenschaften zu tadeln, welche mir

doch eine unversiegbare Quelle des Glücks ist. Denn nach meiner Überzeugung

liegt das wahre Glück nicht im Geld, sondern in der Herzensruhe und Selbstzufrie-

17

Schliemann an Magdalena Schliemann, 31.12.1856, zit. nach Meyer 1953, S. 87; Hervorhebung im

Original.

18

Schliemann an Magdalena Schliemann, 31.12.1856, zit. nach Meyer 1953, S. 88; Hervorhebung im

Original.

19

Schliemann an Magdalena Schliemann, 31.12.1856, zit. nach Meyer 1953, S. 87.