Background Image
Previous Page  337 / 500 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 337 / 500 Next Page
Page Background

337

die Stelle der Phantasie die nüchterne Forschung getreten“

43

; „Jetzt ist aus dem

Schatzgräber ein gelehrter Mann geworden [...]“

44

. Die Formulierung „ganz von

selbst“ unterschlägt dabei ein wenig, dass diese Entwicklung kein Automatismus

war, sondern schon vorhandene Anlagen in Schliemanns Persönlichkeitsstruktur

zur Voraussetzung hatte. Virchows Gedächtnisrede auf Schliemann 1891 präsen-

tiert die etwas euphemistische Deutung, Schliemanns Schwärmertum zu Beginn

der Ausgrabungen auf Hisarlık 1871 habe in Zusammenhang mit der zwei Jahre

zuvor erfolgten Verehelichung mit seiner zweiten, 30 Jahre jüngeren Frau Sophia

gestanden: „Die Prosa fand in diesen glücklichen Tagen keinen Zugang zu den

Gedanken des Ehepaares, und fremde Kritik war vorläufig von ihrem Verkehr

ausgeschlossen“

45

. Schließlich bilanziert Virchow: „Schliemann hat später die

Bedenken gewürdigt, zu denen seine Unerfahrenheit in archäologischen Ausgra-

bungen Veranlassung bot, und er hat seine Angaben berichtigt“

46

. Damit spricht

er etwas für Professionalisierung Entscheidendes an: Schliemann hatte die Fähig-

keit erworben, sich Kritik zu stellen, Kritik anzunehmen und gegebenenfalls die

eigenen Hypothesen im Lichte dieser Kritik zu revidieren oder zu modifizieren.

In einem Brief an Virchow 1879 bemerkt Johanna Mestorf, Schliemann habe hin-

sichtlich seines wissenschaftlichen Schaffens „ins Gleis gesetzt werden“

47

müs-

sen, was er, Virchow, geleistet habe. Diese Metapher könnte man aufgreifen und

dahingehend präzisieren, dass der Habitus professionalisierten Handelns kein äu-

ßerlicher, eine bestimmte Bahn vorgebender Mechanismus ist, sondern eher eine

Art innerer Kompass, der in Krisen- und Entscheidungssituationen dem Individu-

um die Richtung weist.

Kritikfähigkeit ging Schliemanns „Schmähschreiber“ Boetticher vollständig ab,

er beharrte auf einer einmal gefassten Meinung und nahm ihr widersprechende

Evidenzen nicht zur Kenntnis. Den anhaltenden Widerstand gegen seine Theorie

vermochte er sich nicht anders als durch immer abstrusere Verschwörungstheori-

en zu erklären, die ihn wiederum in eine Isolation manövrierten, was sich unter

anderem darin zeigt, dass er keine Publikationsorgane mehr fand und daher „Send-

43

Virchow 1881, S. X.

44

Virchow 1881, S. XVI. – Christiane Zintzen wertet diese Entwicklung als „Verschiebung des

Forschungsmotivs vom Individuellen (persönliche Bereicherung) zumAllgemeinen (Bereicherung

der Wissenschaft)“ (Zintzen 1998, S. 320). Tatsächlich wäre eher von einer Sublimierung als

einer Verschiebung zu sprechen (vgl. Jung 2010, S. 107; S. 244–255). Überhaupt neigt Zintzen

dazu, Schliemanns Professionalisierungsprozess narratologisch zu unterlaufen, wenn sie etwa das

Zurücknehmen der eigenen Person in Schliemanns Darstellungen seiner Forschungsergebnisse

nicht als Ausdruck dieses Prozesses versteht, sondern als strategisch motivierte „Suggestion von

Wissenschaftlichkeit“ (Zintzen 1998, S. 301).

45

Virchow 1891, S. 50.

46

Virchow 1891, S. 53.

47

Mestorf an Virchow, 31.12.1879, zit. nach Andree 1976, S. 324.