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die Stelle der Phantasie die nüchterne Forschung getreten“
43
; „Jetzt ist aus dem
Schatzgräber ein gelehrter Mann geworden [...]“
44
. Die Formulierung „ganz von
selbst“ unterschlägt dabei ein wenig, dass diese Entwicklung kein Automatismus
war, sondern schon vorhandene Anlagen in Schliemanns Persönlichkeitsstruktur
zur Voraussetzung hatte. Virchows Gedächtnisrede auf Schliemann 1891 präsen-
tiert die etwas euphemistische Deutung, Schliemanns Schwärmertum zu Beginn
der Ausgrabungen auf Hisarlık 1871 habe in Zusammenhang mit der zwei Jahre
zuvor erfolgten Verehelichung mit seiner zweiten, 30 Jahre jüngeren Frau Sophia
gestanden: „Die Prosa fand in diesen glücklichen Tagen keinen Zugang zu den
Gedanken des Ehepaares, und fremde Kritik war vorläufig von ihrem Verkehr
ausgeschlossen“
45
. Schließlich bilanziert Virchow: „Schliemann hat später die
Bedenken gewürdigt, zu denen seine Unerfahrenheit in archäologischen Ausgra-
bungen Veranlassung bot, und er hat seine Angaben berichtigt“
46
. Damit spricht
er etwas für Professionalisierung Entscheidendes an: Schliemann hatte die Fähig-
keit erworben, sich Kritik zu stellen, Kritik anzunehmen und gegebenenfalls die
eigenen Hypothesen im Lichte dieser Kritik zu revidieren oder zu modifizieren.
In einem Brief an Virchow 1879 bemerkt Johanna Mestorf, Schliemann habe hin-
sichtlich seines wissenschaftlichen Schaffens „ins Gleis gesetzt werden“
47
müs-
sen, was er, Virchow, geleistet habe. Diese Metapher könnte man aufgreifen und
dahingehend präzisieren, dass der Habitus professionalisierten Handelns kein äu-
ßerlicher, eine bestimmte Bahn vorgebender Mechanismus ist, sondern eher eine
Art innerer Kompass, der in Krisen- und Entscheidungssituationen dem Individu-
um die Richtung weist.
Kritikfähigkeit ging Schliemanns „Schmähschreiber“ Boetticher vollständig ab,
er beharrte auf einer einmal gefassten Meinung und nahm ihr widersprechende
Evidenzen nicht zur Kenntnis. Den anhaltenden Widerstand gegen seine Theorie
vermochte er sich nicht anders als durch immer abstrusere Verschwörungstheori-
en zu erklären, die ihn wiederum in eine Isolation manövrierten, was sich unter
anderem darin zeigt, dass er keine Publikationsorgane mehr fand und daher „Send-
43
Virchow 1881, S. X.
44
Virchow 1881, S. XVI. – Christiane Zintzen wertet diese Entwicklung als „Verschiebung des
Forschungsmotivs vom Individuellen (persönliche Bereicherung) zumAllgemeinen (Bereicherung
der Wissenschaft)“ (Zintzen 1998, S. 320). Tatsächlich wäre eher von einer Sublimierung als
einer Verschiebung zu sprechen (vgl. Jung 2010, S. 107; S. 244–255). Überhaupt neigt Zintzen
dazu, Schliemanns Professionalisierungsprozess narratologisch zu unterlaufen, wenn sie etwa das
Zurücknehmen der eigenen Person in Schliemanns Darstellungen seiner Forschungsergebnisse
nicht als Ausdruck dieses Prozesses versteht, sondern als strategisch motivierte „Suggestion von
Wissenschaftlichkeit“ (Zintzen 1998, S. 301).
45
Virchow 1891, S. 50.
46
Virchow 1891, S. 53.
47
Mestorf an Virchow, 31.12.1879, zit. nach Andree 1976, S. 324.