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Schriften Pierre Bourdieus, als eine generative Formel zu verstehen, die Urteile
der Angemessenheit hervorbringt und das Handeln strukturiert.
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Sie ist Bestandteil
des sogenannten „schweigenden“ oder „impliziten“ Wissens, das einer einfachen
Abfragbarkeit entzogen ist und daher aus Äußerungen und Handlungen rekonstru-
iert werden muss. Der Habitus operiert jenseits bewusster Kontrollierbarkeit, ohne
dass er aber unbewusst im Sinne des Verdrängten wäre.
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Die Ausbildung in den Professionen besteht typischerweise aus zwei Komponen-
ten: einem akademischen Studium, das der Aneignung der jeweiligen kodifizierten
Wissensbestände dient, und einer Phase, in welcher der wissenschaftliche Novize
in die Praxis seines Faches durch Teilhabe an dieser Praxis und begleitende Unter-
weisung durch erfahrene Fachvertreter eingeführt wird. Die erste Komponente ist
standardisierbar und kurrikularisierbar, die zweite nicht, hier muss der Novize ler-
nen, einen Fall, ein konkret vorliegendes Handlungsproblem, zu verstehen und zu
lösen und so Erfahrungswissen zu kumulieren. Diesen beiden Komponenten ent-
sprechen meist auch zwei unterschiedliche zeitliche Phasen der Ausbildung, gerade
in den Wissenschaften verlaufen die Aneignung des Fachwissens und die Einübung
in die Praxis wissenschaftlichen Problemlösens aber häufig parallel. Das genau
meint die Formel von der Einheit von Forschung und Lehre, und es ist die epocha-
le Leistung der Humboldtschen Universität, die Herausbildung eines erfahrungs-
wissenschaftlichen Habitus institutionalisiert und ihr einen Ort gegeben zu haben,
nämlich in der philosophischen Fakultät. Wichtig ist eine möglichst frühe Teilhabe
der Novizen an authentischer Forschung, die sich mit all den damit verbundenen
Schwierigkeiten und Krisen in eine offene Zukunft hinein vollzieht. So besteht eine
nicht anders denn als fatal zu bezeichnende Entwicklung nach den letzten Univer-
sitätsreformen darin, dass es immer länger dauert, bis Studenten an Forschung teil-
haben können und diese tendenziell Graduierten vorbehalten bleibt. Damit bringen
die Universitäten hervorragende Fachmenschen hervor, die aber mitnichten auch
gute Forscher sein müssen, und diejenigen, welche die Anlagen dazu mitbrächten,
müssen erst ein standardisiertes und verschultes Studium durchstehen, in dem sie
mit illustrativen Forschungssurrogaten in Gestalt didaktischer Präparationen und
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Bourdieu 1974.
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Bourdieu selbst hat sein Verständnis von „Habitus“ zuerst in einem Nachwort zu einem Buch des
Kunsthistorikers Erwin Panofsky in Zusammenhang mit der künstlerischen Produktion und epo-
chenspezifischen Habitusformen dargelegt (Bourdieu 1974). Später, insbesondere in der bekannten
Untersuchung „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982), erfolgte dann eine Fokussierung auf
klassenspezifische Habitusformen sowie eine Engführung des Habitus- mit dem Lebensstilkonzept.
Ein in bewussten Konsumentscheidungen sich manifestierender Lebensstil ist aber allenfalls ein
schwacher Abhub des Habitus als generativer Formel. Problematisch ist ferner, dass Bourdieu dazu
neigt, den Habitus als das alleinige praxisstrukturierende Prinzip anzusehen. Zu einer Kritik des
Habituskonzeptes Bourdieus vgl. Jung i.Vorb.