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Die Kontroverse von Heinrich Schliemann und Ernst Boet-
ticher aus soziologisch-professionalisierungstheoretischer
Sicht
Matthias Jung
Den Hintergrund zu meiner Beschäftigung mit dem Streit zwischen Hein-
rich Schliemann und Ernst Boetticher über die Deutung des Ruinenhügels von
Hisarlık, in welchem Boetticher bekanntlich Reste einer „Feuernekropole“ zu er-
kennen glaubte, bildete eine im Kontext eines Projektes zur Professionalisierung
von Wissenschaftlern
1
entstandene Studie zu zeitgenössischen Amateurarchäolo-
gen.
2
In diesem Kontext sollten auch einige exemplarische historische Analysen
durchgeführt werden, insbesondere bezogen auf das 19. Jahrhundert, in welchem
die Professionalisierung von Prähistorikern noch eng mit der Institutionalisierung
des Faches amalgamiert war. Eine solche Analyse hätte die Auseinandersetzung
von Schliemann und Boetticher zum Gegenstand gehabt, was sich dann aber aus
Zeitgründen und wegen der seinerzeit etwas entmutigenden Quellenlage nicht ver-
wirklichen ließ. Mittlerweile hat Michaela Zavadil eine vorzügliche Dokumentati-
on dieser Kontroverse vorgelegt,
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vor deren Hintergrund ich zumindest skizzieren
kann, was an ihr aus einer soziologischen Perspektive bemerkenswert und auf-
schlussreich ist.
Einleitend sei zunächst kurz die für den etwas sperrigen Titel des Beitrags ver-
antwortliche Professionalisierungstheorie umrissen, weil sich mit ihr ein Begriff
des Strukturproblems wissenschaftlicher Autodidakten gewinnen lässt. Im Unter-
schied zu historischen Professionalisierungstheorien, welche vor allem Fragen der
Genese und Institutionalisierung von Professionen seit der Renaissance untersu-
chen, steht im Zentrum einer soziologischen Theorie die Frage, wie sich bezo-
gen auf das Individuum der Erwerb und die Einübung eines professionalisierten
Habitus vollzieht, wie also konkrete Personen beispielsweise zu Ärzten und Juri-
sten – um die klassischen Professionen zu nennen – oder eben zu Wissenschaft-
lern werden.
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Habitus ist in diesem Zusammenhang, in Anlehnung an die frühen
1
Es war dies das von Ulrich Oevermann geleitete Teilprojekt „Struktur und Genese professionalisierter
Praxis als stellvertretender Krisenbewältigung“ des Frankfurter SFB/FK 435 „Wissenskultur und
gesellschaftlicher Wandel“.
2
Jung 2010; vgl. auch Jung 2015.
3
Zavadil 2009.
4
Zu der hier zugrunde gelegten Professionalisierungstheorie allgemein vgl. Oevermann 1996, zur
Wissenschaftlerprofessionalisierung vgl. Franzmann 2012.