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Thiersch versuchte, sich einer Deutung über die ihm wohlbekannten Schriftquellen

zu nähern. Die rohe Form ließ ihn auf ein hohes Alter der Figuren schließen, der für

sein Stilempfinden ungriechische Stil gab einen weiteren Hinweis. So sah er sie als

Zeugnisse der vorgriechischen Inselbevölkerung, bei der es sich nach Herodot und

Thukydides um Karer gehandelt hat:

„Die Karer sind von den Inseln her auf das Festland gekommen. Vor Zeiten waren

sie dem König Minos untertan; sie hießen Leleger und wohnten auf den Inseln.

Zins haben sie ihm bis in die älteste Vergangenheit hinauf, soweit ich habe erfra-

gen können, nicht gezahlt. Nur Mannschaften für die Flotte mußten sie stellen,

wenn Minos welche brauchte.[...] Geraume Zeit später kamen die Dorier und Io-

nier und vertrieben die Karer, die nun auf das Festland übersiedelten, von den

Inseln.“ (Herodot I, 171, Übersetzung A. Horneffer)

„Minos nämlich war der erste, von dem wir Kunde haben, daß er eine Flotte

besaß, das heute hellenische Meer weithin beherrschte und die Kykladen eroberte

und meistenteils zuerst besiedelte, wobei er die Karer verdrängte und seine Söhne

als Fürsten einsetzte.“ (Thukydides I, 4, Übersetzung G. P. Landmann)

Bei Thiersch spielt nun erstmalig

eine ethnische Deutung der früh-

kykladischen Altertümer eine Rol-

le. Die Schlussfolgerung, dass sie

nicht dem klassischen Schönheits-

ideal entsprechen und daher ungrie-

chisch sein müssen, wird sich noch

das ganze 19. Jahrhundert in der

Fachliteratur halten.

Neben Thiersch unternahmen in

den 1830er Jahren noch andere Ge-

lehrte Reisen auf die kykladischen

Inseln. Besonders hervorzuheben

sind die Tätigkeiten von Ludwig

Ross (1806–1859), der ebenfalls im

Gefolge Otto I. nach Griechenland

kam und erster Ephoros der griechi-

schen Denkmalpflegebehörde wur-

de (Abb. 3). Mehrere Reisen auf die

griechischen Inseln machten ihn mit

frühkykladischen Funden bekannt.

Abb. 3 – Ludwig Ross (1806–1859)