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3. 3. Schliemanns Wissenschaftsbegriff blieb bis zur Aufnahme und selbst während
des locker gehandhabten Studiums in Paris vage und unbestimmt. Er äußerte zudem
kein Verlangen, tiefer in die Geschichte des griechisch-römischen Altertums vor-
zudringen, ungeachtet dessen, dass er Cicero und Homer im Original las. Ihn dafür
zu tadeln, wäre falsch. Er besaß einfach nicht die geistigen Voraussetzungen, nicht
das kulturgeschichtliche Wissen und noch nicht das Gespür für archäologische For-
schungen, dass er sich später als wissenschaftlicher Selfmademan in umfassender
Weise aneignete. Wenn er im Kreise seines Petersburger Zirkels über die Erfolge
archäologischer Grabungen im Orient, in Ägypten und im Süden Russlands erzäh-
len hörte, so ist zu fragen, warum damals kein zündender „archäologischer“ Funke
auf ihn übersprang, den Spaten in die mit Altertümern angefüllte russische Erde zu
stoßen? Er hätte dann jedenfalls seine russische Frau, seine Petersburger Familie
nicht verlassen und seine russische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben dürfen. Erst
viel später – so Schliemanns Angebot von Ende 1882/ Anfang 1883 – als er schon
der ruhmvolle Ausgräber von Troia, Mykene,Tiryns und Orchomenos war und ihn
die Argonautensage im stärkeren Maße beschäftigte, wollte er im Süden Russlands
graben, im Kaukasus, dort wo die goldreiche Kolchis lag.
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Ich denke, behaupten
zu können, dass Schliemann bis gegen Ende 1866 keinerlei Absichten hegte, ir-
gendwo archäologische Grabungen in die Wege zu leiten: nicht in Russland, wo
er seine Kraft und sein Geld in einen der skythischen Kurgane hätte investieren
können und eigentlich nur einer unter anderenAusgräbern gewesen wäre, und nicht
in Troia. Das bezeugt nicht zuletzt auch sein Reisetagebuch von 1866.
Prof. Dr. Armin Jähne
Hans-Sachs-Straße 21
16321 Bernau, OT Schönow
BR Deutschland
suajaehne@web.de35
O. I. Bi
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, Novye materialy o Genriche Schlimane (= Neue Materialien über Heinrich Schliemann),
in: Vestnik drevnej istorii (VDI) 1947, 2, S. 183 – 187, hier S. 184; dazu E. Meyer, Heinrich
Schliemann. Kaufmann und Forscher, Göttingen etc., S. 1969, S. 154f.: Schliemanns Angebot war
außerordentlich großzügig – Übernahme aller Kosten, sämtliche Funde sollten der Eremitage in St.
Peterburg übergeben werden. Die russische Seite lehnte ab. O. Daschevskaja, Novoe o Genriche
Schlimane (= Neues über Heinrich Schliemann), in: VDI 1968, 1, S.191 – 195; I. E. Babanov, L.
A. Suetov, Novye dokumenty k biografii Schlimana (= Neue Dokumente zur Biographie Schlie-
manns), in: ebenda, S.195 – 198; A. Gawrilow, Schliemann und Rußland, in: W. M. Calder III, J.
Cobet (Hrsg.), Heinrich Schliemann nach hundert Jahren, Frankfurt/Main 1990, S. 390 - 393.