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Wie lassen sich Leben und Werk Heinrich Schliemanns
gerecht beurteilen? Ein Versuch in 99 Sonntagsvorträgen
Reinhard Witte
Auf die Bitte des Schriftstellers Arnold Zweig (1887-1968), seine Biographie
schreiben zu dürfen, antwortete der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud
(1856-1939) am 31. Mai 1936: „Nein, ich liebe Sie viel zu sehr, um solches zu ge-
statten. Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heu-
chelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die
biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht
zu gebrauchen.“
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Schon seit vielen Jahren plane ich, eine eigene Schliemann-Biographie zu schrei-
ben. An Material und Kenntnissen fehlt es nicht. Und dennoch scheiterte das Pro-
jekt bisher an der quälenden Frage: Wie lassen sich Leben und Werk Heinrich
Schliemanns
gerecht
beurteilen? Wir wissen viel, sehr viel, manchmal sogar zu
viel über diesen Kaufmann und Forscher. Manchmal bezeichne ich ihn als gläser-
nen Menschen. Doch kennen wir ihn trotz seines ungeheuer großen Nachlasses und
seinen zahllosen Veröffentlichungen wirklich? Seit Mai 2003 versuche ich, in mitt-
lerweile 99 Sonntagsvorträgen eine Antwort auf diese Frage zu finden.
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Von allen,
auch den entferntesten Ecken, sollte sein Leben und Werk beleuchtet und letztlich
eingeordnet werden. Die Vorträge lassen sich grob in folgende Themenkomplexe
einteilen: Quellen und Literatur über Schliemann und dessen eigene Quellen (Ho-
mer und Pausanias seien hier genannt) zur Erforschung der sog. homerischen Geo-
graphie. Die Kenntnisse darüber geben uns die Möglichkeit, über viele Facetten
des Privatmenschen Schliemann zu sprechen, über den Russen und Amerikaner,
über das Sprachgenie und den rastlos Reisenden, über den Kaufmann und Archäo-
logen. Besonderes Augenmerk verlangt die moderne Schliemannforschung, auf
seine Funde und Angriffspunkte zu legen, angefangen vom Zweifel am „Traum
von Troja“ bis hin zu Unstimmigkeiten betreffs des sog. Schatzes des Priamos.
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Dabei kommen Schliemanns Unterstützer und Freunde wie auch seine Kritiker
ins Spiel. Bei aller berechtigten und zum Teil überzogenen Kritik an Schliemann
darf man trotzdem die Erinnerung an dessen zahlreiche Auszeichnungen und Eh-
rungen sowie an seine eigenen Grundsätze nicht vergessen. Damit möchte ich den
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Zitiert nach: E. Freud, L. Freud und Ilse Gubrich-Simitis. Mit einer biographischen Skizze von
K. R. Eissler, Frankfurt am Main 2006, S. 245 (Nr. 281).
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S. Anhang.
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Vgl. den erneuten Vorwurf von D. A. Traill in diesem Band.




