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ze waren inkommensurable Waffen. Aus dem Agon wurde Mord. Mehr noch,

Hektors Tod folgte der Exzess des Siegers, der sich über jeden Moralkonsens

hinwegsetzte, die Schändung des toten Feindes duldete, ja diese Schändung bis

zur Perversität steigerte: „Hinten an beiden Füssen durchbohrte er ihm von der

Ferse bis zum Knöchel die Sehnen, knüpfte lederne Riemen darum, band sie

am Wagenkorb fest und ließ sein Haupt hinterherschleifen“ (Il. 22, 395 - 398).

Der Agon zwischen Achill und Hektor, auf Leben und Tod geführt, bot keinen

Spielraum für einen Kompromiss. Es musste geschehen, was nicht anders ablau-

fen konnte, denn die Götter wollten es so. Achills Rachelust machte jede Ver-

ständigung unmöglich und konnte – wie jede gewollte Rache überhaupt – nicht

Grundlage eines wirklichen Agons sein. Der Zweikampf von Achill und Hektor

in seiner Endphase hatte zudem noch eine klare, in die Zukunft weisende Dimen-

sion. In ihrer Maßlosigkeit musste Achills Rache abschrecken, denn sie verletzte

den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie war weder dem Anlass des Krieges

adäquat, noch ließ sie sich durch den Tod des Patroklos rechtfertigen. Achills Art

der Rache war kein brauchbares Mittel der Konfliktlösung. Sie stand außerhalb

jeder Rationalität von Vergeltung und war in ihrer schrecklichen Grausamkeit

vom Dichter wohl als Menetekel und Warnung gedacht worden.

V.

Ich kehre zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zurück. Das Agonale ent-

wickelte sich zur „zweiten Triebkraft“ antiken Griechentums, wie Jakob Burck-

hardt bemerkte. Es will tatsächlich so scheinen, als sei mit dem agonalen Prin-

zip jenes subjektive Agens entdeckt, das die antik-griechische Gesellschaft ganz

wesentlich von der altorientalischen und der barbarischen unterschied, wie bei

Lukian im fiktiven Dialog Solons mit dem Skythen Anacharis deutlich wird,

und das ihr soviel Beweglichkeit und Flexibilität verlieh, das über das Mittelalter

(Rittertum, städtisches Patriziat, feudale Lebensweise)

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von der westeuropäi-

schen bürgerlichen Gesellschaft ererbt wurde und seither einen ihrer entschei-

denden Charakterzüge ausmacht und ihre Besonderheit nach Ost wie Süd bedingt

(eine Ausnahme bildet offenbar Japan mit seiner Samurai-Ideologie und deren

dortigen Nachwirkungen). Ob uns aber das Streben nach immer besserer, immer

höherer Leistung, das Wollen von immer mehr, ob uns diese agonalen Denk- und

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In diesem Zusammenhang muss an A. J. Gurjewitsch, Das Individuum im europäischen

Mittelalter, Müchen 1994 erinnert werden. Gurjewitsch verweist in diesem Buch auch auf die

Linien, die, trotz Brüchen, von der Antike her in das „geistige Universum“ des mittelalterli-

chen Menschen hineinreichten. Das mittelalterliche Individuum war wie in der Antike nicht

ohne seine soziale Gruppenbindung denkbar, und erst in der Gruppe gelang es ihm, sich als

Persönlichkeit zu erkennen und zu entwickeln.