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Der Modellfall der Leichenspiele zu Patroklos‘ Ehren lässt noch etwas anderes
deutlich werden. Obwohl ihre Teilnehmer um Preise und Siegesruhm wetteifer-
ten, schien allein schon das Mitmachen, das Gehören zum Kreis der Wettkämpfer
Auszeichnung genug gewesen zu sein. Es fällt auch auf, dass alle Agonisten vom
Publikum gleichermaßen respektvoll behandelt wurden, ungeachtet des Ruhmes,
der nur dem Sieger zufiel. Bekundungen von Spott, Schadenfreude oder Verär-
gerung über Leistungen einzelner Kämpfer fehlten. Bei der kleinen Gruppe von
dreizehn Teilnehmern (vier von ihnen kämpften zwei- bzw. viermal, wie Aias)
handelte es sich um sozial Gleichgestellte, um Vertreter der achäischen sozialen,
militärischen und politischen Elite, die offenbar nur vor ihresgleichen und nicht
vor dem gesamten Griechenheere ihre Kraft, Geschicklichkeit, ihren Verstand
und ihre Gruppenethik im Agon aneinander, miteinander und gegeneinander
maßen. Gleiche waren auf Gleiche gestoßen (die späteren
epieikeis
oder
kaloi-
kagathoi
), und jeder von ihnen hatte sein Bestes gegeben. Es waren Personen,
die sich durch agonale Professionalität und Kompetenz auszeichneten: Könner
und Kenner. Beim Publikum ist beides ebenfalls vorauszusetzen. Professiona-
lität und Kompetenz fußten auf Übung, die durchaus - wie auch der Agon als
Krönung leistungssteigernden Trainings - einen Zweck erfüllte. Dieser Zweck
bestand wohl zuerst in der Ausbildung und Bewahrung eines Körperideals, das
für den griechischen Aristokraten und später den freien Polisbürger erstrebens-
wert schien, und - darin eingeschlossen - in der Vorbereitung auf den Krieg.
Körperliche und geistige Ertüchtigung waren nicht denkbar ohne Muße, über
die vor allem die aristokratische Oberschicht der griechischen Gesellschaft und
später jene Polisbürger verfügten, die keiner ständigen, mit schwerer körperli-
chen Plackerei verbundenen gewerblichen Tätigkeit nachgingen.
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Der Agon –
im kleineren Kreis oder als öffentliche Großveranstaltung – und alles, was ihm
vorausging, ja selbst die passive Teilnahme als Zuschauer, waren wohl immer
einer Elite vorbehalten. Die Teilnahme an einem Agon oder dessen Besuch waren
für die aristokratischen Kreise in der frühgriechischen Gesellschaft eine Pres-
tigesache, entsprachen ihrem Standesbewusstsein, ihrer Lebensart und ihrem
Werteverständnis. Ihr gesamtes Dasein – und keine andere Gesellschaftsschicht
kam ihnen darin gleich – war in starkem Maße agonal bestimmt. Zwischen den
außerordentlich kommunikativen aristokratischen Geschlechtern herrschte ein
allgemeines, permanentes Wettbewerbsdenken, das fast sämtliche aristokratische
Lebensbereiche erfasste. Man wollte reicher, schöner, klüger, sportlicher, erfolg-
reicher, eben tüchtiger als der jeweils andere sein, die edleren Pferde besitzen, die
bessere Wirtschaft führen, die größere Pracht entfalten.
27
26
E. Ch. Welskopf, Probleme der Muße im alten Hellas, Berlin 1962, S. 66-121.
27
E. Stein-Hölkeskamp, a. a. O., S. 52 f., 104, 111f.




