41
Schliemanns bronzezeitliche Hisarlık-Siedlungen: Ihre
Bedeutung im Kontext heute bekannter bronzezeitlicher
Siedlungen im westlichen Kleinasien
Frank Kolb
Als Schliemann seine Suche nach der Ilios der homerischen Ilias aufnahm, wurde
in der altphilologischen Wissenschaft und in der allgemeinen Mythen- und Mär-
chen-Forschung schon längst die Historizität der im Epos geschilderten Ereignis-
se und der historischen Qualität von Mythen im Allgemeinen angezweifelt: Ich
nenne hier nur die Namen Friedrich August Wolff und Wilhelm Grimm
1
. Heinrich
Schliemann hätte mithin Anlass gehabt, nicht unbedingt vertrauensselig mit der
Ilias in der Hand nach Troia zu suchen. Sein Verdienst ist es jedoch, mit seinem
aufwendigen Grabungsunternehmen auf Hisarlık und mit seinen folgenden Gra-
bungen auf der Peloponnes den entscheidenden Schritt zur Erhellung einer bis da-
hin unbekannten Epoche, nämlich der ägäischen Prähistorie, getan zu haben. Und
es ist ihm beileibe nicht zu verübeln, dass er den prähistorischen Siedlungsplatz
auf dem Hügel Hisarlık aufgrund der Freilegung imposanter Befestigungsmauern
und des sogenannten Priamos-Schatzes für einen bedeutenden Ort hielt.
Die bronzezeitlichen Siedlungen, die er und Wilhelm Dörpfeld vorfanden und
die durch die folgenden Grabungen von Carl Blegen noch etwas besser bekannt
wurden,
2
sind von unterschiedlicher Qualität und Größe. Da Schliemann und Dörp-
feld keine Gelegenheit hatten, sie mit anderen kleinasiatischen prähistorischen
Siedlungen zu vergleichen, weil solche damals noch nicht bekannt waren, konnte
der Rang der bronzezeitlichen Befunde auf dem Hügel Hisarlık im Siedlungs-
spektrum Kleinasiens noch nicht eingeschätzt werden. Zwar wurde nicht lange
danach durch Grabungen in Hattuşa und an anderen Orten des zentralen und östli-
chen Anatolien sowie im Vorderen Orient deutlich, dass die bronzezeitlichen Sied-
lungen von Hisarlık nicht mit jenen der weiter östlich gelegenen Zivilisationen
konkurrieren konnten. Aber im westlichen Anatolien blieb Hisarlık auf lange Zeit
hinaus der einzige bekannte und wissenschaftlich erforschte prähistorische Sied-
lungsplatz.
1 Vgl. Kolb 2010, 54f. – (Aufsätze in türkischer Sprache werden im Folgenden nur mit Titel und
Band der Zeitschrift angegeben, in der sie publiziert sind. Die Jahresangaben beziehen sich nicht
auf das Kongress-, sondern auf das Publikationsjahr. Bei den Zeitangaben ist in der Regel „v.
Chr.“ zu ergänzen.)
2 S. zum Folgenden den Überblick über die Grabungsresultate ebenda 119-122. 156-202.




