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Seite 80 Informationsblatt 32 Dezember 2020

Beiträge und Berichte

Allein in der Athener Gennadius Library (Abb. 14) existieren 18

Reise- und Ausgrabungstagebücher in 10 verschiedenen Spra-

chen (Serie A), ca. 34.000 Briefe an Schliemann (Serie B), Briefe

von Schliemann im Original (Serie BB) bzw. festgehalten und

schwer leserlich in 43 Kopierbüchern (BBB). Weiter gehören

zum Nachlass Manuskripte (Serie C), persönliche Dokumente

wie z. B. Pässe oder Ehrenurkunden (Serie D), Geschäftsbücher

und andere wirtschaftliche Dokumente (Serie E), Dokumente zu

Schliemanns Eigentum in Athen und zu seiner Münzsammlung

(Serie F) sowie schließlich Varia (Serie G), Zeitungsausschnitte

(Serie H), Sekundäres Material (z. B. spätere Zeitungsausschnit-

te über Schliemann, Serie I) und Photographien von ihm, seiner

Frau Sophia, seinen griechischen Kindern u. a. (Serie J). Ergänzt

wird das umfangreiche Material durch die „Sophia Schliemann

und Heinrich Schliemann Family Papers“.

26

Was an Schliemanns Nachlass noch in der Welt verstreut ist (re-

gelmäßig werden Autographen bei Auktionen angeboten), lässt

sich nicht genau beziffern. Das Heinrich-Schliemann-Museum

in der Schliemanngemeinde ist stolz darauf, in seinem Archiv

u. a. über 100 Originalbriefe des Kaufmanns und Forschers, alle

Briefe an Schliemann und die 18 Tagebücher aus der Gennadius

Library in Kopie zu besitzen.

Vergessenen wir nicht bei der Aufzählung der vorhandenen Ar-

chivalien seine 10 wissenschaftlichen Bücher und die zahllosen

Aufsätzen und Artikel von ihm in Fachzeitschriften und Tages-

zeitungen.

9. Entmythologisierung

Um es gleich vornweg zu sagen, meine Absicht ist es nicht, Beet-

hoven und erst recht nicht Schliemann auf ihren Denkmälern

unverrückbar zu verankern. Beides waren Menschen. Und Men-

schen machen Fehler und haben ihre Charakterstärken, aber auch

ihre Charakterschwächen. Darüber ließe sich viel schreiben. Es

müsste abgewogen werden zwischen Vorwürfen, die begründet

mit denen die unbegründet sind. Es müssten Verdienste auf der

einen Seite und Schwächen auf der anderen Seite betrachtet wer-

den. Doch darüber ist bereits, vor allem Schliemann betreffend,

26 S. unter

https://www.ascsa.edu.gr/index.php/archives/heinrich-

schliemann-finding-aid

.

viel geschrieben worden, so dass wir es hier nur zu resümieren

brauchen. Einig dürfte man darüber sein, dass bei beiden großen

Männern ihre Verdienste die Schwächen bei weitem übertreffen!

„Beethoven hat die Entmythologisierung überlebt. Als man sei-

nen 200. Geburtstag beging, schienen seine Popularität und sein

Ruhm ungebrochen“, behaupteten lapidar zwei bekannte Musik-

wissenschaftler.

27

Und im Jahr seines 250. Geburtstages können

wir sagen: Popularität und Ruhm steigen und steigen. Doch was

heißt eigentlich Entmythologisieren? Die Wahrheit über eine Er-

zählung, über eine Person erfahren? Nachweisen, dass berühmte

Persönlichkeiten der Geschichte auch „ihre Leichen im Keller

haben“? Sie uns „normalen Menschen“ näherbringen? Sie zu

trivialisieren? Dagegen waren und sind auch z. B. Goethe und

Luther nicht gefeit.

In einem Brief vom 6. März 1807 an Marie und Paul Bigot de

Morogues schreibt Beethoven: „Nie werden sie mich unedel fin-

den, von Kindheit an lernte ich die Tugend lieben – und alles

was schön und gut ist.“ Wir wissen, dass der große Komponist,

diesem Ideal nicht immer treu blieb. Es gab unschöne Szenen

zwischen ihm, seinen Brüdern, seinen Freunden und seinen

Gönnern. Zeitgenossen und Biographen schildern seine Unsau-

berkeit in seinen über 30 Wohnungen in Wien und später auch in

seiner Kleidung, so dass der Meister sogar einmal als Landstrei-

cher verhaftet wurde. Sie schildern seinen Zwiespalt zwischen

dem „einsamen Revolutionär“

28

und Republikaner einerseits und

dem fast ausschließlichen Umgang in Adelskreisen bis hin zur

kaiserlichen Familie andererseits. So war er auch enttäuscht, als

ein Gericht ihm klarmachte, dass sein „van“ kein „von“ ist. Spielt

das Alles eine Rolle, wenn seine göttliche Musik erklingt? Nein!

Ungerecht ist es, und es hat nichts mit Entmythologisierung zu

tun, wenn darauf hingewiesen wird, dass Beethovens Musik –

vor allem seine 9. Sinfonie – in der Geschichte und von Politi-

kern oft missbraucht wurde. So waren Aufführungen der Neun-

ten oder der Oper „Fidelio“ im Nazi-Deutschland völlig fehl am

Platze. Doch wirft das keineswegs ein schlechtes Licht auf Beet-

hoven selbst. Er konnte sich dagegen nicht mehr wehren.

Der „Mythos Beethoven“ war 1986 Thema einer Sonderausstel-

lung im Beethoven-Haus Bonn, die sich mit allen, der hier nur

angeschnittenen Facetten, beschäftigte (Abb. 15).

Wie sieht es nun mit der Entmythologisierung Schliemanns aus?

Am 29. April 1987 schrieb Justus Cobet in der FAZ in einem

Artikel „Das erfundene Troja. Leben und Werk Heinrich Schlie-

manns bleiben umstritten“ die auch noch heute gültigen Worte:

„Die klassischen Würdigungen, wie noch 1980 zum neunzigsten

Todestag, sind von der Geschichte überholt.“ Was war passiert?

Bereits zu seinen Lebzeiten hatte Schliemann viele Gegner, ja

mitunter sogar Feinde. Ernst Curtius und Adolph Furtwängler,

Größen ihres Fachs, zweifelten an seinen Ausgrabungsergeb-

27 Joseph Kerman und Alan Tyson: Beethoven (The New Grove),

Stuttgart-Weimar 1992, S. 147. Das englische Original erschien

bereits 1983.

28 Jan Caeyers: Beethoven. Der einsame Revolutionär. Eine Biogra-

phie, München 2012 (2. Auflage 2020).

Abb. 14 – Gennadius Library in Athen