Seite 56 Informationsblatt 31 Februar 2020
Beiträge und Berichte
an zu denken, daß die Trojaner etwa eine eulenköpfige Athene
darstellen wollen. Es gibt kein Exemplar, welches uns zwänge,
in ihm ein Eulengesicht statt eines primitiven Menschenantlit-
zes zu erkennen, wohl aber mehrere, die wegen ihres deutlich
angegebenen Mundes nichts anderes als ein Menschengesicht
vorstellen können. Und wie hätte das Volk auch dazu kommen
sollen, sein heiliges Bild, die Burggöttin, zur anmuthigeren Ge-
staltung von Kochtöpfen,Wasserkrügen und Schmutzeimern zu
verwenden?“
7
Nach Schliemanns Tod am 26. Dezember 1890 erscheinen vie-
le Erinnerungen an ihn und setzen sich mit der Lebensleistung
auseinander. Auch Virchow ergreift dazu mehrmals das Wort.
In der Zeitung „Die Nation“ vom 3. Januar 1891 schildert Vir-
chow seine erste Begegnung mit Schliemann:
„Es war ein besonderer Glücksfall, daß ich um die gleiche Zeit
die pommerellischen Gesichtsurnen zum Gegenstand einer Be-
sprechung gemacht hatte, jene sonderbaren Thongefäße, denen
eine gewisse Aehnlichkeit mit den Trojanischen Eulenurnen
zukommt. Eines Tages erschien Schliemann in meinem Hause,
um sich mit mir über diese Angelegenheit zu verständigen. Das
war der Anfang unserer Bekanntschaft, die seitdem zu einer in-
nigen Freundschaft geworden ist.“
Ähnlich äußert er sich in der Eröffnungsrede zur Jahresver-
sammlung der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft in
Danzig. Er macht deutlich, dass die Erkenntnisse in der Vorge-
schichtsforschung in den letzten Jahren ungeheuere Fortschritte
gemacht haben. Auf die pommerellischen Gesichtsurnen ein-
gehend, datiert er sie nun in die Hallstattzeit, da Vergleichsfun-
de aus dieser Zeit mit den Ritzzeichnungen auf den Urnen nur
diesen Schluss zuließen.
Faszinierend bis heute
Seit dem Tod von Schliemann und Virchow haben die pom-
merellischen Gesichtsurnen nichts von ihrer Faszination ver-
loren. Sie bildeten und bilden noch heute ein Spezialgebiet
in der Ur-und Frühgeschichtsforschung. Die Zahl der Funde
ist in den vergangenen 120 Jahren enorm gestiegen, auch ihr
Verbreitungsgebiet umfasst Funde aus ganz Polen (insgesamt
etwa 3000), wobei die Funddichte sich weiterhin auf das Ge-
biet Königsberg und Danzig konzentriert. Sind die Angaben,
die ich dem Internet entnehmen konnte, richtig, so verfügt al-
lein das Museum in Lebork (Lauenburg in Hinterpommern), ca.
65 km von Danzig entfernt, über 300 derartiger Fundstücke.
Auch die Datierung scheint gesichert. Wie schon Virchow auf
der Jahresversammlung der Deutschen Anthropologischen Ge-
sellschaft in Danzig zu Anfang August 1891 ausführte, werden
die Funde in die Hallstattzeit (frühe Eisenzeit, Hallstatt C und
D, bis zur Spätstufe der Latenezeit A und B) datiert, also in die
Zeitspanne zwischen dem 7. Jh. v. u. Z. bis in das 1./2. Jh. v.
u. Z. In der Fachliteratur wird heute der Begriff der Ostpom-
merschen Kultur verwendet (auch Gesichtsurnenkultur oder
7
Carl Schuchhard, Die Ausgrabungen Schliemanns in Troja, Tiryns, Mykenä,
Orchomenos und Ithaka, 1891.
Glockengräberkultur). In den 30er bis 60er Jahren des 20. Jh.
wurde eifrig über die Herkunft und die Einflüsse benachbarter
Kulturen diskutiert, wobei polnische und deutsche Archäologen
kontroverse Ansichten vertraten (nordische Kultur, vorslawi-
sche Kulturen, Lausitzer Kultur)
8
, wurde diese Diskussion in
den 90er Jahren kaum mehr thematisiert, wohl aber spielte die
Deutung der Verzierungen der Urnen eine Rolle. In die Urnen
der Frauen wurden meist Schmuckelemente eingeritzt, Nadeln,
aber auch Halskragen, selten fanden sich auch Gefäße mit
„echten“ bronzenen Halskragen, die um die Urne gelegt wur-
den. Die Verzierungen der „Männerurnen“ enthalten in erster
Linie Ritzzeichnungen von Waffen und Tieren (Abb. 10), zu-
sätzlich aber auch Schmuckelemente. Besonders interessant ist
die Darstellung eines Reiters. Wurde früher angenommen, die
Gesichter könnten por-
träthafte Züge des Ver-
storbenen
darstellen,
wurde diese Auffassung
schnell „begraben“ und
nun die Meinung von
speziellen Werkstätten
zur Anfertigung derar-
tiger Gefäße vertreten,
da viele Exemplare
in einer Grabkammer
oder eines begrenzten
Gebietes sehr starke
Ähnlichkeiten unterein-
ander aufwiesen. In den
Grabkammern mit mehreren Gefäßen fand man Bestattungen
von weiblichen und männlichen adulten Individuen als auch
Kinderbestattungen vor. Dies deutet darauf hin, dass die Grab-
kammern als Gemeinschaftsgräber angesehen werden können,
in denen je nach Bedarf Nachbestattungen vorgenommen wur-
den. Eine Besonderheit bilden die Bestattungen der Krieger.
Abschließend sei erwähnt, dass wir diese Gesichtsurnen nicht
nur in Marienburg, sondern auch bei unseren Exkursionen nach
Berlin ins Neue Museum (Abb. 11) und sogar die Nachbildung
einer Grabkammer mit derartigen Gefäßen im Landesmuseum
Vorpommerns in Greifswald bestaunen konnten.
8
R. Virchow unterschied 1872 erstmalig zwischen slawischer Kultur (Burg-
wallkultur) und vorslawischer Kultur, wobei er letztere etwas später als
bronzezeitlich erkannte. 1880 prägte er den Namen „Lausitzer Kultur“ für
diese Periode.
Abb. 10 – Verzierungen auf einer pommerelli-
schen Gesichtsvase in Virchow 1870
Abb. 11 – Vitrine im Schliemann-Saal des Neuen Museums Berlin (Foto: R. Hilse)