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Informationsblatt 31 Februar 2020
Beiträge und Berichte
Steinzeitfigur gefunden hatte, ihr den Namen „Venus impudi-
que“, die „schamlose Venus“ gegeben. Inzwischen waren hin und
wieder solche „Venusfiguren“ gefunden worden. Bei der Venus
von Willendorf soll es sich um das 9. Exemplar gehandelt haben.
Inzwischen kennt man ca. 130 solcher Frauenstatuetten.
Nach ihrer Auffindung brachten J. Szombathy und J. Bayer das
kostbare Stück unauffällig auf ihr Zimmer in die Dorfschänke.
Zur Mittagszeit erfuhr auch H. Obermaier von dem spektakulä-
ren Fund. „Der Abend wurde tüchtig zu Ehren der Venus einge-
weiht“, wie Bayer später schrieb.
Der Fund wurde mit Wasser gereinigt, wobei die ursprüngliche
Rötelschicht auf der Figur stark in Mitleidenschaft gezogen wur-
de, und am 9. August 1908 brachte Obermaier die Figur nach
Wien und übergab sie dem Museumsdirektor.
Da man sich nicht auf den eigentlichen Finder einigen konnte
(der Arbeiter blieb außen vor), wurden die Namen der beteiligten
Archäologen in streng hierarchischer Reihenfolge: J. Szombathy,
J. Bayer und H. Obermaier auf der Aufbewahrungsschatulle ver-
merkt.
Dieser Streit verhinderte auch die Publikation, und die Öffent-
lichkeit erfuhr zunächst nichts von dem geborgenen Fund.
Als Szombathy dann diesen, entgegen der Abmachung, im Al-
leingang in der Presse publizierte, wuchsen die Spannungen zwi-
schen ihm und seinen Kollegen weiter an.
1932 wurden die letzten noch lebenden Arbeiter nach der Auffin-
dung der Venus von Willendorf befragt. Einig waren sich diese
darin, dass nur Dr. Bayer anwesend war. Sie erinnerten sich des-
halb so deutlich daran, weil er ihnen gleich freigegeben hatte und
imWirtshaus Wein spendiert habe.
Eigentlich unmöglich, da das Foto am Tage der Auffindung an
der Fundstelle von J. Szombathy aufgenommen wurde. Hatte
eine der streitenden Parteien „nachgeholfen“, oder kannten sie
J. Szombathy nicht, da er ja die Überwachung der Arbeiten vor
Ort J. Bayer und H. Obermaier überließ, während er zumeist in
Wien weilte?
Deutung der Venus von Willendorf und ihre Datierung
Über die Bedeutung der „Venusfiguren“ wird seit ihrer Auffin-
dung gerätselt. Fest steht, dass die Darstellung dieser Frauenfi-
guren einer Ikonografie folgt. Wohlbeleibte (fettleibige) Figuren
kennt man aus ganz Europa, wobei die Funde aus Sibirien eine
Ausnahme darstellen. Die Venusfiguren von Gagarino, aber auch
die von Dolni Vestonice und die Venus von Moravany weisen
Übereinstimmungen mit der Venus von Willendorf auf. Welche
Vorstellungen die Menschen der Altsteinzeit genau mit diesen
Frauenstatuetten verbanden, wissen wir nicht. Aber die weite
Verbreitung und ihre Fundumstände (meist am Rande einer Feu-
erstelle entdeckt) legen nahe, dass es sich um Darstellungen han-
delte, die einen überregionalen Bedeutungsinhalt haben könnten.
Ob sie Fruchtbarkeitssymbole waren, was z. B. Darstellungen
von Frauen auf Höhlenmalereien nahelegen, die Jahrtausende
später entstanden, als die Venusfiguren schon der Vergangenheit
angehörten, ist eine offene Frage. Die Spekulationen sind breit
gefächert und reichen vom „Sexsymbol“, einer Göttin, Schwan-
geren, Gebärenden, Talisman oder Puppe bis hin zu „Stößeln“
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zum Zerkleinern und Zerreiben von Materialien.
Wie groß der Hang ist, aus moderner Sichtweise die Venus „se-
xistisch“ zu interpretieren, zeigte sich 2018, als die italienische
Künstlein Laura Ghianda gleich mehrfach eine Abbildung der
Willendorferin auf Facebook hochlud. Das Unternehmen stufte
die Fotos als „gefährlich pornografisch“ ein und sperrte die Bil-
der. Erst auf Intervention der Künstlerin und des NHMWien ent-
schuldigte sich das Unternehmen und gab die Abbildungen frei.
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D. Ziegler: Erweiterung des Bedeutungshintergrundes von Frauenstatuetten
aus dem Jungpaläolithikum.
Abb. 10 – Tagebuch von J. Szombathy. Eintrag vom 07. 08. 1908 mit dem Vermerk
des Auffindens der Venus I (Archiv der Prähistorischen Abt. des NHM Wien)