Background Image
Previous Page  52 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 52 / 80 Next Page
Page Background

Seite 52 Informationsblatt 31 Februar 2020

Beiträge und Berichte

Gdansk (Danzig) hat bei den Teilnehmern unserer diesjährigen

Studienfahrt einen tiefen Eindruck hinterlassen. Eine Stadtfüh-

rung machte uns mit der Geschichte vertraut, und abends wurde

natürlich die Gelegenheit genutzt, die hell erleuchteten Plätze

und Straßen auf eigene Faust zu erkunden. Es herrschte fröhli-

cher Trubel: Straßenmusikanten, Jongleure, gut besuchte Cafés

und Restaurants, ja sogar zwei junge Männner, die ihre Riesen-

schlangen zum Streicheln anboten, machten den Stadtrundgang

zum Erlebnis. Nicht vergessen darf man die vielen Stände und

Geschäfte, die den „Sonnenstein“, den Bernstein, roh, meist

aber zu Schmuck verarbeitet, in allen Größen, Varianten und

zu unterschiedlichsten Preisen anboten. Ein Besuch in einer

Bernsteinschleiferei machte uns mit den Eigenschaften und der

Verarbeitung dieses Stoffs vertraut, und die Inhaberin warnte

ausdrücklich vor dem Kauf allzu preiswerter Ware, da dies oft-

mals Imitationen aus China seien, die die Eigenschaften echten

Bernsteins zeigten. Beim Erwerb guter Schmuckstücke sollte

man deshalb unbedingt auf ein Echtheitszertifikat Wert legen.

Das war gestern. Heute, am 27. Juli 2019, wir hatten den Rund-

gang durch die Marienburg, dem größten Backsteinbau Europas

und imMittelalter Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens

schon halb bewältigt, waren begeistert von dem Gesehenen,

als unsere Museumsführerin uns auf Grund der zur Verfügung

stehenden Zeit aufforderte, das „kleine“ Bernsteinmuseum zu

besichtigen, denn es wäre im Preis inbegriffen. Also nutzten

wir diese Gelegenheit. Wie üblich wurde die Entstehung des

Bernsteins, die „Ernte“ und Verarbeitung anschaulich darge-

stellt, und es fehlten auch die Stücke mit den viel bestaunten

„Inkrustationen“ von Insekten und Pflanzenteilen nicht. In den

folgenden Räumen wurden kunstvoll verarbeitete Bernstein-

objekte gezeigt. Und darunter sah ich sie, eine wunderschöne

pommerellische Gesichtsurne (später entdeckte ich noch eine

zweite, aus einer früheren Periode, aber unverziert.), wie ich

sie vorher noch nicht gesehen hatte. Die Besonderheit dieses

Exemplars bestand darin, dass es noch in einem Ohrloch den

vollständigen Ohrschmuck, bestehend aus Bronzeringen mit

blauen Glasperlen und Bersteinstücken, trug

(Abb. 1 und 2).

Ich mag diese anthropomorphen Gefäße und finde viele davon

sehr ästhetisch, aber das ist Geschmackssache. Sofort war die

Assoziation zu Schliemann und Virchow hergestellt.

Was es damit auf sich hat, darüber möchte ich nun berichten.

Rudolf Virchow und die Gesichtsurnen

Am 12. März 1870 hielt Rudolf Virchow auf einer Sitzung der

Berliner Anthropologischen Gesellschaft einen Vortrag „Ueber

Gesichtsurnen“, der später in der Zeitschrift für Ethnologie (2.

Bd., 1870, S. 73-86) veröffentlicht wurde.

Ausgehend von den ägyptischen Kanopen und ähnlichen Fun-

den in Etrurien und ihrer Verwendung, bezieht sich Virchow

dann auf Funde von Gesichtsurnen in Deutschland. Er behan-

delt kurz die römischen Gesichtsurnen von Ansiedlungen am

Rhein, um dann ausführlich auf die pommerellischen Gesichts-

urnen einzugehen. Die Fundorte liegen alle in einem eng be-

grenzten Gebiet längs des linken Weichselufers und der Danzi-

ger Bucht bis zur Ostsee.

Er beschreibt das Ton-

material und die Aus-

prägung des Gesichtes

der Urnen von den ei-

fachen Formen bis zur

vollständigen Ausbil-

dung mit Augen, Mund,

Nase und durchloch-

ten Ohren, die oftmals

mit Ohrringen verse-

hen sind. Der Deckel

wird als „mützenartig

mit dickem Rand“ be-

schrieben. Er stellt eini-

ge Funde aus dem Ber-

liner Museum und dem

Museum in Königsberg vor und betont, dass in ihnen Bron-

zegerät (Ringe, Ketten, Ohrringe mit Glasperlen, Nadeln und

Pinzetten) und an einzelnen Stellen auch Eisengeräte gefunden

wurden. Auf Grund dieser Tatsachen glaubt er, die Funde in

„eine relativ späte Bronzeperiode“ datieren zu können

(Abb. 3).

ImAnschluss geht er auf die eingeritzten Verzierungen ein (Tie-

re, Schmuckgeräte und Halsringe).

Abschließend erörtert er die Frage, ob es sich bei den pom-

merellischen Gesichtsurnen um eigenständige Entwicklungen

handele, was analoge Funde aus Mexiko und Peru nahelegen,

oder es doch Beziehungen zu Etrurien oder Skandinavien gäbe.

Heinrich Schliemann, Rudolf Virchow und die Gesichtsurnen

Eine „Fußnote unserer diesjährigen Reise“

Abb. 1 und 2 – Gesichtsurne im Bernsteinmuseum auf der Marienburg

(Fotos: R. Hilse)

Abb. 3 – Gesichtsurne in Virchow 1870