Seite 60 Informationsblatt 31 Februar 2020
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handeln könnte. Auch die Brüste sind von ausgearbeiteten Linien
umgeben. Hüften, Bauch, Gesäß und Schenkel sind stark ausge-
prägt, das Geschlecht detailgetreu dargestellt. Füße fehlen.
Das Material ist Oolith
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, der nach der Fertigstellung der Figur
mit Rötel eingefärbt wurde, was Farbspuren beweisen. Die ge-
naue Herstellungsweise der Venus ist unbekannt, jedoch wurde
zur Endbearbeitung sicherlich ein Stichel verwendet, wie sich
viele derartige Stücke in der Fundschicht unmittelbar über der
Figur fanden. Der Oolith stammt nicht aus der Gegend von Wil-
lendorf und weist starke Übereinstimmungen mit dem Material
aus Stranska skala
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auf. Auch ein Teil der geborgenen Feuerstein-
werkzeuge stammt von dort.
Die Fundgeschichte
Die Fundgeschichte der Venus von Willendorf ist zunächst un-
spektakulär, sollte aber in einem Streit enden.
In Willendorf (Abb. 8) gab es im 19. Jh. Ziegeleibetriebe (Wil-
lendorf I und Willendorf II) und beim Lehmabbau traten Funde
zu Tage, die der für Urgeschichte interessierte Ingenieur Brun pu-
blik machte. In den Jahren 1883 und 1884 wurden erstmals Gra-
bungen durch Josef Szombathy (1853-1943) vom NHMWien an
der Fundstelle durchgeführt.
Durch den Bau der Donauuferbahn schien es geboten, die inzwi-
schen entdeckten sieben Lagerstellen von Jägern und Sammlern
des Jungpaläolithikums einer genaueren Untersuchung zu unter-
ziehen. Am 29. Juli 1908 begann die erste Grabungskampagne
durch das NHMWien. Der offizielle Leiter war Josef Szombathy
(Abb. 9 ), inzwischen Chef der Abteilung Urgeschichte. Vor Ort
beaufsichtigten jedoch die noch jungen Wissenschaftler Dr. Jo-
3 Eierstein, besonderes Kalksteinsediment. Besteht aus kleinen Mineralkügel-
chen, die durch Kalk verkittet sind.
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Tschechien, am Stadtrand von Brno, ca. 270 km von Willendorf entfernt. In-
ternational bekannter paläontologischer und archäologischer Fundplatz.
sef Bayer (1882-1931) und Dr.
Hugo Obermaier (1877-1946)
die Ausgrabungen, an denen
auch 9 Grabungsarbeiter betei-
ligt waren.
Am 7. August 1908, einem son-
nigen Tag, war zu früher Stunde
auch Szombathy in Willendorf
II eingetroffen, fertigte Fotos an
und beschrieb die bisherigenAr-
beiten seiner Mitarbeiter Bayer
und Obermaier, als ein Arbeiter
gegen 10 Uhr einen besonde-
ren Fund machte. Szombathy
notierte in seinem Tagebuch:
„In meiner Gegenwart, da ich u
Dr. B. hinsahen, traf 1 Arbeiter
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beim sorgfältigen Abgraben der
Kulturschicht 9 auf 1 völlig gut erhaltenes Steinfigürchen, ein
steatopyges Weib, das ich aushob.“
Eine beigefügte, beschriftete Skizze zeigt eine Kohleschicht,
ca. 25 cm hoch, und die Lage des Figürchens (Abb. 10). Wie es
scheint, wurde nach derAuffindung ein Foto von Szombathy auf-
genommen, welches Dr. Bayer am Fundort stehend zeigt (Abb.
11).
Man erkannte natürlich sofort die Bedeutung des Fundes, ja die
Fundgattung hatte sogar schon einen Namen erhalten. In Anspie-
lung auf eine griechische Statue, der „Venus pudica“ (Knidische
Aphrodite), der „züchtigen Venus“, hatte 1864 der französischer
Marquis Paul de Vibraye (1809-1878), der eine ebenfalls nackte
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Der Name des Arbeiters wird in der Literatur unterschiedlich angegeben:
Als italienischer Lohnarbeiter Johann Veran bzw. a. a. O.: Karl Heiss.
Abb. 8 – Blick auf Willendorf I und II vom östlichen Ufer des Danube (Foto: J.
Szombathy, Archiv der Prähistorischen Abt. des NHM Wien, Nr. 4777)
ABB. 9 – J. Szombathy
(Archiv NHM Wien)
Abb. 11 – Willendorf II am 07. 08. 1908: Ausgrabung der Venus I. Die stehende
Person ist J. Bayer am Fundort der Figur (Foto: J. Szombathy, Archiv der
Prähistorischen Abt. des NHM Wien, Nr.: 4796)