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Seite 61

Informationsblatt 29 April 2018

Die großartige Donaumetropole und Kunsthauptstadt bietet

bei genauerem Hinsehen auch ein Zeugnis eines interessanten

gesellschaftlichen Experiments. Bereits bei der Stadtrundfahrt

fallen immer wieder Gebäudekomplexe auf, die Eigennamen

haben und gekennzeichnet sind als „durch die Gemeinde Wien

im Jahre … erbaut“, wie am Karl-Marx-Hof, dem bekanntesten

Beispiel. Nun muss man zum Karl-Marx-Hof immerhin nach

Heiligenstadt fahren, er liegt also nicht an der üblichen Route,

dafür ist er um so symbolträchtiger.

Wir sahen auch einen Herweghhof, einen Goethehof und ande-

re, von den zwanziger Jahren bis in die Gegenwart erbaut. Auch

am „Hundertwasserhaus“ findet sich eine Inschrift. Es handelt

sich durchweg um Wohnungen, die sich „kleine Leute“ in der

Großstadt leisten können, die (zahlreichen) Bewerber dürfen

ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten und nicht über

eigenständiges Wohneigentum verfügen. Die Wohnungen sind

im kommunalen Besitz der Stadt Wien.

Nach dem 1. Weltkrieg stand Wien vor einer sozialen Katastro-

phe. Die Wohnungsnot war eines der dringendsten Probleme.

Ab 1922 konnte die Stadt Wien, nunmehr selbständiges Bun-

desland der Republik Österreich, eine eigene Wohnbausteuer

erheben, die von allen Bürgern zu entrichten war, die selbst

Wohneigentum besaßen. Die teuersten 0,54 % der Wiener

Mietobjekte erbrachten 44,57 % der Gesamtsteuereinnahme,

die ausschließlich für den Wohnungsbau verwendet wurde. So

gelang es von 1923 bis 1934 61.175 kommunale Wohnungen

zu erbauen, in denen Hunderttausende ein menschenwürdiges

Dasein mit ihren Familien führen konnten, immer verglichen

mit den Seuchenquartieren der Vorkriegs- und Kriegszeit. Die

Wohnungen waren zunächst klein, bis 1927 wurden vorwiegend

zwei Typen mit 38 und 48 Quadratmeter gebaut, mit Toilette,

fließendemWasser, Wohnküche mit Gasherd und einem „Kabi-

nett“. Fast alle Wohnungen hatten Loggien,

Balkone oder Erker. Gemeinschaftsräume

ergänzten das Angebot, Bäder, Waschsa-

lons, Kindergärten, Arztpraxen. Die An-

lagen haben meist Grünanlagen und die

Architektur ist funktional, mit deutlichen

Anklängen an den Bauhausstil.

Diese Wohnungsbaupolitik konnte durch

die absolute Mehrheit der Sozialdemokra-

ten in der Wiener Stadtvertretung / Lan-

desregierung durchgesetzt werden und war

Bestandteil weiterer sozialpolitischer Maß-

nahmen wie vorbeugender Gesundheits-

schutz, Bildungsprogramme für Proletarier,

die sich an einem bürgerlichen Kanon ori-

entierten (z. B. Konzerte klassischer Mu-

sik). Es gibt Schwimmbäder, Kinotheater,

Sportplätze aus diesem Bauprogramm. Die

Architekten waren zunächst Schüler des

bekannten Otto Wagner, der ja das Jugend-

stilbild der Stadt schon geprägt hatte, später

auch freie Architek-

ten, deren Arbeiten

noch heute beein-

drucken. Es gibt

einen

Stadtführer

„Rotes Wien“, der

Spaziergänge durch

eine Landschaft stei-

nerner Zeugen einer

interessanten kon-

kreten sozialpoliti-

schen Orientierung

anbietet. Ideologisch

stand der Begründer

des Austromarxis-

mus, Otto Bauer, hinter dieser Politik, einer Politik, die eben

nicht nur auf den Vollzug einer proletarischen Revolution setz-

te, sondern im bestehenden bürgerlichen (kapitalistischen)

System Kerne einer anderen, gerechteren Welt setzen wollte.

Otto Bauer und die Austromarxisten haben es nicht geschafft,

sich unter den linken Kräften Europas durchzusetzen, vor allem

nicht gegen die übermächtige kommunistische Internationale,

die von Stalin dominiert wurde. Aber ihr praktisches Wirken

lässt Nachdenklichkeit aufkommen. Dafür muss man kein So-

zialist sein. Bei meinem nächsten Wienbesuch werde ich das

Museum im ehemaligen Waschsalon des Karl-Marx-Hofes be-

suchen und mit etwas mehr Wissen die Margareten (V. Wiener

Gemeindebezirk) und die „Ringstraße des Proletariats“ (ent-

lang des Margaretengürtels), mit demWegweiser „Rotes Wien“

von Inge Podbrecky in der Hand (erschienen im Falter Verlag).

Wien ist immer noch eine Reise mehr wert!

Prof. Dr. Hellmut Rühle

Beiträge und Berichte

Wien-Reise II

Das „RoteWien“

Hofes. Karl-Marx-Hof am U-Bahnhof Heiligenstadt

„Sähender“ von Otto Hofner, 1920, Plastik in der

Grünanlage des Karl Marx