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(zitiert nach 27)? Virchow hat die Skelettreste, eine Kalotte mit abgeflachter Stirn

und dicken Augenbrauenwülsten, Arm und Beinknochen, sowie kleinere Relikte

sehr detailliert anatomisch beschrieben(20). Die Beobachtungen entsprachen nicht

einem gesunden zeitgenössischen Menschen. Er hielt das Individuum für krank,

insbesondere wegen einer ungewöhnlichen Verknöcherung der Schädelnähte,

„Hyperostosen der Inneren Oberfläche [des Schädels – H. R.)“ und stark geboge-

ner Extremitätenknochen. Hinsichtlich des Alters und des diskutierten Vorliegens

eines diluvialen Menschen hielt er sich zurück, lehnte jegliche Schlussfolgerung

in dieser Richtung ab mit dem Verweis auf die Einzigartigkeit und Unvollständig-

keit des Fundmaterials. Er blieb damit seinen Prinzipien einer vorsichtigen Mei-

nungsbildung treu, wenn er sagte

„Ich meine aber, der Neanderthal-Schädel wird vorläufig nur als merkwürdige

Einzelerscheinung gelten dürfen und ehe wir nicht durch parallele Funde weitere

Aufklärung erlangt haben, müssen wir daran festhalten, daß eine durchaus indivi-

duelle Bildung vorliegt“ (20, S.164)

.

Wie sehen wir die Antworten Virchows heute?

Aus medizinischer Sicht gibt es bis in die Gegenwart immer wieder Diskussionen,

ob die veränderten Knochen verschiedener Neandertaler Befunde eine osteologi-

sche Störung zeigen, beispielsweise durch einen Vitamin D-Mangel. Francis Ivan-

hoe hat umfangreiche Skelettreste aus Europa und dem nahen Osten untersucht

und dabei besonders bei den Kinderschädeln für eine Rachitis typische Verände-

rungen gefunden, insbesondere auch an den Zähnen. Er fand eine deutliche Ab-

hängigkeit der Ausprägung dieser Veränderung im Verhältnis zu Breitengrad und

Klimabedingungen und kam zur Annahme des Vorliegens schwerer rachitischer

Veränderungen nördlich des 40. Breitengrades (7). Seine Hypothese wird auch un-

terstützt durch die Vermutung einer riesigen Vulkaneruption (10, S.53) in Südeur-

opa, die vor ca. 40.000 Jahren zu einer Verminderung der Sonneneinstrahlung und

einer Klimaveränderung im nördlichen Lebensraum des Neandertalers geführt

haben könnte, somit vielleicht sogar sein Aussterben begünstigte (Übersicht 10).

Der konkrete Neandertaler, der Namensgeber dieser Menschenart, dessen Reste

Virchow sah, war jedoch nach neueren Untersuchungen tatsächlich krank, schwer

krank, wie moderne Untersuchungen erkennen lassen. Die von Virchow beschrie-

benen „Hyperostosen“ erwiesen sich in der Aufarbeitung mit modernen medizini-

schen Methoden als osteoclastische Metastasen eines nicht definierten Karzinoms,

das Skelett ist deformiert durch die Folgen mehrerer schwerer Erkrankungen, de-

ren Überleben auf eine fürsorgende Umgebung seiner Artgenossen schließen lässt,

von denen nach 1997 noch einige identifiziert worden sind.