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setzung in einer gebildeten Assoziation. Der Naturwissenschaftler und Mediziner

wurde so auch zum Experten für die Lösung gesellschaftlicher Probleme, was

in seinen vielfältigen Aktivitäten besonders auf kommunalpolitischem Gebiet in

Berlin deutlich wurde.

Bildung

war für ihn der Schlüssel zur Verbesserung der Gesellschaft, anknüpfend

an Kant und Humboldt, aber stärker auf die Naturwissenschaft setzend (4, 366 ff.;

8). Insbesondere für die prähistorische Forschung betonte er deren besonderen

Wert:

„Die Geschichtsschreibung hat ihre bestimmten Grenzen, sie ist stumm, wenn

wir die Frage aufwerfen über jene Zeiten, wo es noch keine Geschichtsbücher

gab (…), wo überhaupt nichts geschrieben wurde. An diesem Punkt muss der Ge-

schichtsschreiber seine Rechte an den Naturforscher abtreten, oder wenn er das

nicht will, so muss er selbst Naturforscher werden“

(zitiert nach 4, S. 321).

Dieser Satz stammt aus einem Vortrag vor dem Berliner Handwerkerverein über

„Hünengräber und Pfahlbauten“. Virchow war sich nicht zu schade, seine Er-

kenntnisse, insbesondere dann auch auf anthropologischem und prähistorischem

Gebiet, vor Laien darzustellen, und auch die Gründung verschiedener Berliner

Museen gehört in den Zusammenhang einer aktiven Wissenschafts- und Bildungs-

politik, für die er geschickt seinen immer größer werdenden öffentlichen Einfluss

nutzte. Schon früh, als 26-jähriger, hat er auch die „Versammlungen Deutscher

Naturforscher und Ärzte“ genutzt, um sich bekannt zu machen, später hat er dort

regelmäßig referiert, meist zu Themen, die mit der erkenntnistheoretischen Rolle

der Naturwissenschaften in Medizin und Gesellschaft verbunden waren (Über-

sicht 8).

Christian Andree hat in seinen beiden Bänden „Rudolf Virchow als Prähistoriker“

(1) eine umfassende Darstellung und Auflistung dieser Aktivitäten geliefert, aus

der auch das wissenschaftliche Netzwerk sehr genau erkennbar wird, das Virchow

über den gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus aufbaute. Ein Re-

sultat seiner eigenen anthropologischen Systematisierungstätigkeit war die Institu-

tionalisierung des neuen Faches in der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie,

Ethnologie und Urgeschichte“ und der entsprechenden Deutschen Gesellschaft, ge-

gründet 1869 und 1870, deren Arbeit Virchow bis zu seinem Tode praktisch domi-

nierte. Dieses Netzwerk von wissenschaftlichen und politischen Kontakten machte

Virchow letztendlich zu der herausragenden Persönlichkeit in der deutschen Wis-

senschaft und Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rund 1.800 Ar-

beiten Virchows sind überliefert, in den Jahren bis ca. 1870 standen medizinische

und sozialmedizinische Themen im Vordergrund, danach eindeutig anthropologi-