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Rudolf Virchows Arbeiten als Prähistoriker und seine Rolle
als wissenschaftlicher Berater Heinrich Schliemanns
Hellmut Rühle
Rudolf Virchow, 1821 geboren in Pommern, erarbeitete sich in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts eine führende Position in der deutschen Naturwissenschaft
und Medizin. Er knüpfte an die Leistungen seines Lehrers Johannes Müller an und
führte die Ablösung von älteren naturphilosophischen Auffassungen in der Medi-
zin fort, wurde zum führenden Vertreter einer naturwissenschaftlichen Denkweise
(Übersicht: u. a. 3; 4; 8)
1
. Seine Cellularpathologie, sein medizinisches Haupt-
werk, konnte so zu einem Meilenstein der modernen Medizin werden. Er schrieb:
„Wir befinden uns inmitten einer großen Reform der Medizin. Zum ersten Male
seit Jahrtausenden ist in unserer Zeit das gesamte Gebiet dieser so umfangreichen
Wissenschaft der naturwissenschaftlichen Forschung unterworfen worden. Lehr-
sätze, welche zu den ältesten Überlieferungen der Menschheit gehören, werden
der Feuerprobe nicht bloss der Erfahrung, sondern noch mehr des Versuchs aus-
gesetzt. Für die Erfahrung werden Beweise, für den Versuch zuverlässige Metho-
den gefordert“ (
17, S.1).
Das von ihm ab 1847 ursprünglich zusammen mit dem aus Neustrelitz stammen-
den Pathologen Benno Reinhardt herausgegebene „Archiv für pathologische Ana-
tomie und Physiologie und für klinische Medizin“ wurde zum wichtigsten Sprach-
rohr auf dem Gebiet der deutschen Medizin des 19. Jahrhunderts und trägt heute
noch, jetzt als Organ der Europäischen Gesellschaft für Pathologie, die Bezeich-
nung „Virchows Archiv“. Die Medizin führte Virchow in den Revolutionsjahren
1848/49 zur sozialen Frage. In seiner Untersuchung der sogenannten Typhusepi-
demie in Oberschlesien lieferte er in dem ihm auch später eigenen, umfassenden
analytischen Stil eine der ersten sozialmedizinischen Arbeiten (16).
Virchow war ein Wissenschaftler mit breiten Interessen, in deren Mittelpunkt der
Mensch stand, aus medizinischer Sicht im engeren, aus anthropologischer im wei-
teren Sinne, aus sozialmedizinischer und politischer Sicht. Er vertrat eine links-
liberale Haltung, glaubte an den Fortschritt der Gesellschaft auf dem Wege der
durch die Naturwissenschaft angestoßenen neuen Erkenntnisse und deren Um-
1
Anm. der Redaktion: Die Zahlen beziehen sich auf die Anordnung im Literaturverzeichnis. Wir
sahen uns nicht veranlasst, die Zitierweise des Autors zu verändern.