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besucht wurde.
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Eduard jedoch ging bald andere Wege; ihm lagen die Arbeit in
der Gemeinde und das Predigen offenbar weniger als Sprachen, Dokumente und
Bücher. So erwarb er sich schon in seinem ersten Russlandjahr ein Diplom als La-
tein- und Griechischlehrer. 1838 trat er in den öffentlichen Bibliotheksdienst ein
und übersetzte und edierte in dieser Funktion rund dreißig antike und byzantini-
sche Texte. Später betreute er zudem die Bibliothek an der kaiserlichen Eremitage
und wirkte als Konservator am Münzkabinett. Für seine Edition des neutestament-
lichen Codex Vaticanus erhielt er 1848 den russischen St. Annen-Orden 3. Klasse
sowie, ein Jahr später, von Seiten der Universität Zürich einen Ehrendoktortitel
der Theologie. Knapp zwanzig Jahre lang arbeitete er an einer Chronologie aller
Ereignisse der byzantinischen Geschichte von 395 bis 1453, deren zweiter Teil
erst 1871 gedruckt wurde.
1864 gab Eduard von Muralt seine Anstellungen in St. Petersburg aus Solidarität
mit dem beim Zaren in Ungnade gefallenen Bibliotheksleiter Florian Gille auf und
kehrte mit seiner Familie in die Schweiz zurück. Dort gelang es ihm offenbar, eine
zweite Karriere aufzubauen: er habilitierte sich an der theologischen Fakultät in
Bern, wirkte von 1869 bis 1871 als außerordentlicher Professor für neutestament-
liche Theologie an der Universität Lausanne und übernahm das Pfarramt an der
dortigen Deutschschweizer Gemeinde.
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Im gleichen Jahr, 1864, nahm auch Heinrich Schliemanns Leben eine entscheiden-
de Wende: nachdem ihm die Hektik seines Lebens als Geschäftsmann und Spe-
kulant in Russland
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zunehmend widerwärtig geworden war, liquidierte er seine
Firma, begab sich auf eine knapp zweijährige Weltreise und ließ sich anschließend
in Paris nieder, um sich, wie er in seiner Autobiographie von 1881 sagte, „ganz
dem Studium der Archäologie zu widmen.“
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Dabei wurde ihm klar, dass er sein
neues Leben ohne seine russische Familie würde führen müssen, da sich seine
Frau Jekaterina weigerte, aus St. Petersburg wegzuziehen und die drei Kinder mit
einer anderen als der russischen Schulbildung aufwachsen zu lassen.
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Sicher waren sich Schliemann und von Muralt trotz ihrem so unterschiedlichen
beruflichen Werdegang – hier ein erfolgreicher Geschäftsmann, dort ein Biblio-
thekar und Wissenschaftler – schon in ihren Petersburger Jahren verbunden, und
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Vgl. Maeder 2003.
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Kiener 2005, 216–217; ergänzende Informationen verdanke ich Gilbert Coutaz, Staatsarchivar des
Kantons Waadt. Zweifellos werden sich weitere Aufschlüsse über E. von Muralts bisher wenig be-
kannte Schweizer Jahre aus dem letzten, rund 250 Seiten umfassenden Teil seiner „Erinnerungen“
(s. Anm. 11) ergeben („Drittes Buch: Die Schlusswirksamkeit in der Heimath“).
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Mai 2012.
15
Schliemann 1881, 22.
16
Bogdanov 1999.