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mente aus dem Archiv veranschaulichen.

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Französisch nimmt den vierten Platz

unter den Korrespondenzsprachen Schliemanns ein – ungefähr 12% der in der

Gennadius Library aufbewahrten Eigenbriefe und 13–14 % der eingegangenen

Briefe sind in französischer Sprache verfasst. Die Bedeutung ergibt sich also

nicht aus bloßer Nutzungshäufigkeit, sondern aus den personengebundenen und

situationsbezogenen Umständen. Schliemann benutzte Französisch in 13 von 18

erhaltenen Tagebüchern.

7

Drei davon enthalten Bemerkungen über seine Besuche

in Frankreich.

Im ersten Tagebuch (A1), über das W. Arentzen in diesem Heft berichtet, sind

226 von 295 Seiten in Französisch geschrieben, obwohl sich Schliemann darin

mehrmals als Russe identifiziert. Französisch steht in Passagen, bei denen es

speziell um Frankreich geht, sowie in Schilderungen seiner Vorbereitungen auf

die Ausreise aus Russland und der Reisen entlang der baltischen Küste und nach

London sowie in Beschreibungen verschiedener Ansprechpartner.

Wenn Schliemann jedoch über Frankreich schreibt, zeigt er ein besonderes Inte-

resse nicht nur für Geldangelegenheiten, sondern auch für den Charakter und die

moralische Einstellung der Menschen, denen er begegnet. Sein erster Eindruck

der Franzosen ist keineswegs schmeichelhaft: „Die Lebensweise in Frankreich

gefällt mir gar nicht: es gibt zu viel Freiheit hier – man heiratet sehr selten und

ist im Gegenteil zufrieden, das sittenloseste Leben zu führen. Das gewöhnliche

Gespräch bei Mahlzeiten in den Hotels kreist um Sachen so vulgär und so unan-

ständig, dass ein Russe sich schämen würde, dabei zu sein und es zu hören . .

. Was mich doch sehr erstaunt, ist die Dreistigkeit (die Unerschrockenheit) der

französischen Damen, die sich unaufgefordert in die Gespräche mit Fremden ein-

mischen, die sie erstmals gesehen haben.”

8

Dieses Zitat illustriert anschaulich

Schliemanns Denkweise im Alter von 24 Jahren: angesichts der Weltoffenheit

der raffiniertesten Nation in Europa zeigt sich der unternehmerische Junge aus

Mecklenburg sozialkonservativ und moralisch wertend. Das Betragen und die

Sitten der Franzosen sind ein Thema, worauf er mehrfach in diesem Tagebuch

eingeht: die Verdorbenheit der Pariser Männer, ihr Missbrauch des weiblichen

Geschlechts und die Überlegenheit des glücklichen Familienlebens in Russland.

6

Heinrich Schliemann and Family Papers (künftig erwähnt als HS&FP), Series B (ankommende

Originalschreiben) und BBB (Kopierbücher von Schliemanns ausgehenden Briefen), zusammen

mit Series G (Verschiedenes), Box 4.

7

HS&FP Series A (Tagebücher): A1, A3, A5–A11 und A13–A16. Im Gegensatz enthalten nur 8 der

18 Tagebücher Passagen auf Deutsch: A5–A7, A9–A10, A13–A16.

8

Die hier u. unten erwähnten Teile von HS&FP A1, 190–191 (erste Eindrücke); vgl. 205-207, 246,

255–265, 269–271 (Reise nach Antwerpen), 282–283 (die „zwei hübschen Mädchen”), 291–295

(St. Petersburger Zirkusvorstellung). Alle Übersetzungen sind von der Autorin.