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Unternehmer Mitte der 1840er Jahre nicht ganz identisch mit dem internationalen
Kapitalanleger und aufstrebenden Geistesmensch der späten 1860er Jahre.
Zunächst die Sprache, wie und unter welchen Umständen hat Schliemann Fran-
zösisch gelernt? Obwohl er als Junge etwas Grundausbildung in Französisch an
der Realschule bekam, war ihm solcher Unterricht unangenehm.
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Aber Dank
seiner angeborenen Fähigkeit entwickelte Schliemann seine eigene Methode des
Sprachenerwerbs. In dem Vorwort zu
Ilios
beschreibt er, wie er durch das Aus-
wendiglernen des Textes von zwei Büchern –
Les Aventures de Télémaque
und
Paul et Virginie
– Französisch erlernt hat.
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Diese Buchauswahl ist recht interes-
sant. Das von François Fénelon verfasste Werk
Les Aventures de Télémaque
war
in Frankreich des 18. und 19. Jhs. höchst beliebt. Wie die
Ilias
und die
Odyssee
ist
dieser erbauliche utopische Roman in 24 Bücher unterteilt, mit dem jungen Tele-
machos und der als seinem Betreuer Mentor verkleideten Göttin Pallas Athene in
den Hauptrollen. Das Buch lehrt moralische und politische Prinzipien durch Dar-
stellungen von Lastern und Tugenden sowie von Liebe und Krieg vor der Kulisse
eines imaginären homerischen Griechenlands. Das von Bernardin de St. Pierre
im Jahre 1787 verfasste Buch
Paul et Virginie
ist eine sentimentale Geschichte,
die inmitten eines exotischen, egalitären Paradieses stattfindet. Es handelt sich
um die todgeweihte Liebe von zwei jungen Menschen, die durch die „zivilisier-
ten“ Zwänge von Familie und Klasse scheitert. Beide Bücher stellen Figuren und
Situationen dar, die im Einklang mit den sozialen und politischen Idealen der
Aufklärung sind. Alle beide entrücken ihre Leser in die ferne Vergangenheit
bzw. ferne Länder. Keines der beiden Bücher ist unbedingt geeignet, den Kopf
eines aufstrebenden Geschäftsmannes zu bereichern.
Weshalb hat Schliemann Französisch gelernt und Frankreich besucht, bevor er
sich 1866 dort niederließ? An erster Stelle der Gründe steht seine Handelstätig-
keit, selbstverständlich wollte er befähigt sein, mit Kaufleuten, die mit Waren
aus den Kolonien handelten und mit Bankiers in deren Sprache zu verkehren.
Französisch war universell anerkannt als Sprache der Diplomatie und des inter-
nationalen Handels. Es sei bemerkt, dass sich nicht alle seine Ansprechpartner in
Frankreich aufhielten, viele der Mitteilungen Schliemanns über Geldangelegen-
heiten mit hochrangigen St. Petersburger und Moskauer Finanzmenschen sind
ebenfalls in französischer Sprache abgefasst. Die Verbesserung der gesellschaft-
lichen Akzeptanz war ein weiterer Grund: die französische Sprache ermöglichte
den sensibleren Umgang mit Freunden und Verwandten, wie zahlreiche Doku-
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D.A. Traill, Schliemann of Troy: Treasure and Deceit (London–New York 1995), 17.
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H. Schliemann, Ilios: The City and Country of the Trojans (London 1880), 10–11.




