Background Image
Previous Page  172 / 240 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 172 / 240 Next Page
Page Background

172

Die erste Frage ist, was meint Schliemann mit „unentbehrlich gemacht“? War er

schon unentbehrlich für Schröder, als er in Amsterdam Russisch gelernt hatte und

für ihn die russischen Kunden betreute? Er verdiente damals, wie er uns in seiner

Selbstbiografie erzählt, Fl. 1000 pro Jahr. Also zweimal soviel wie ein Stadtsekre-

tär, aber er versuchte nicht, Minna zur Frau zu bekommen. Am Ende seines ersten

russischen Jahres war er, im Vergleich zu seinem letzten Amsterdamer Jahr, sogar

ein reicher Mann. Er hielt aber nicht um Minnas Hand an. Nein, er versuchte ein

Russe zu sein. Er reiste nicht nach Mecklenburg, um Minna zu fragen, sondern

nach Paris und London, um die Welt zu sehen. Es ist klar, dass er im Jahre 1846

nicht an die versprochene Heirat mit Minna gedacht hat.

Weshalb Schliemann später erklärte,

dass Minna immer seine große Liebe

(vgl. Abb. 2) war, wird aus diesem Rei-

sejournal nicht klar. Es bestätigt nur, was

wir seit der großen Debatte der neun-

ziger Jahre bereits wissen. Man kann

Schliemanns Selbstbiografie nicht ohne

Vorsicht als eine historische Quelle be-

nutzen. Das ist an sich kein Wunder. Das

Genre der Autobiografie ist von Natur

aus unzuverlässig. Das im 19. Jahrhun-

dert in England hoch angesehene Gen-

re „Life and Letters“ wird allgemein

als so hagiografisch angesehen, dass es

nur durch das christliche Heiligenleben

übertroffen wird.

Damals war die große Frage, was alle diese „Lügen“ uns über Schliemanns Charak-

ter erzählen können. Ich glaube, dass dieses Reisejournal uns zeigt, Schliemanns

„Lügen“ waren nicht für uns, sondern für sein damaliges Publikum bestimmt.

Wenn wir wissen wollen, wie wir Schliemanns Selbstbiografie lesen und deuten

sollen, müssen wir erst die Frage klären, für wen sie bestimmt war.

Abb. 2 – Minna und Heinrich (?), s. Her-

mann und Dorothea – Heimkehr beim An-

zug des Gewitters, von Arthur von Ramberg