Seite 62 Informationsblatt 32 Dezember 2020
Beiträge und Berichte
Urteile eine große Weisheit und eine raffinierte Scharfsinnig-
keit, die der von Salomo überlegen ist. Sobald er die ersten Worte
sich angehört hatte, verteilt er feierlich gleich die Buße. Er gibt
den Schuldigen die Wahl zwischen verschiedenen Strafen, wie
lebenslängliche Haft, harte Arbeit im Wald, achthundert Peit-
schenhiebe, eine Geldstrafe, eine Entschädigung des Anklägers
oder die Todesstrafe. Das Urteil wird sofort vollstreckt. Offen-
sichtlich k
ö
nnte er sehr schwerwiegende Fehler machen, weil
er keine Zeit hatte, über die Urteile gut nachzudenken, aber die
Probanden ziehen diese Geschwindigkeit dem Prozess der Ge-
richte vor, bei denen die Richter die Urteile gegen Gold verkau-
fen. Die Halle der Gerechtigkeit mit drei Säulenreihen war auf
islamische Weise mit Koranversen an den Wänden geschmückt;
sogar die Decke wurde verziert (Abb. 20)
29
. Anscheinend zeigt
29 Palazzo del Bardo, Hofsaal (um 1899). Diese photochrome Gravur
verdanke ich meinem Freund Prof. Dr. Mohamed Hassine Fantar, der
mir erzählt hat, dass diese Halle heute als Sitz des Präsidenten des
Parlaments dient. Das Foto stammt aus dem Katalog der Detroit Pho-
tographic Company „Blicke über die Architektur und die Bevölkerung
von Tunesien“. Karl Baedekers Führer „La Méditerranée. Manuel
pour voyageurs“, Leipzig 1911 berichtet, dass der Bardo in der frucht-
baren Ebene westlich von Tunis ein Palast aus dem 13. Jahrhundert ist,
der als „Winterresidenz der Beys“ dient, die „eine Zitadelle,wo eine
Schatzkammer, eine Moschee, Bäder, eine Kaserne und ein Gefängnis
untergebracht sind. Der aufwendig dekorierte Gerichtssaal wird als
„Hoch Gerichtssaal“ bezeichnet. Die Detroit Photographic Company
war ein Fotoverlag, der um 1890 vom Unternehmer William A. Living-
stone Jr. zusammen mit dem Photografen Edwin H. Husher gegrün-
det wurde, der für die Technik „Photochrom“ zur Umwandlung von
Schwarzweißfotos in Farbfotos Berühmtheit erlangte.
sich der Bey als starker und hochintelligenter Mensch und es
scheint mir seltsam, dass die Bevölkerung ihn als kindisches
Arschloch [sic !
]
betrachtet. [E.S.]
Anschließend, am 1. August, als Schliemann bereits in Italien
für eine Thermen-Behandlung in Porretta di Decima bei Bolo-
gna ist, überdenkt Schliemann die Sätze des Bey und berichtet
ausführlicher über dieselbe Episode (vgl. Tagebuch A5, S. 34-
36)
:
[S. 34]
[…] Die merkwürdigsten Dinge, die ich seit meiner
Abreise aus P[aris] gesehen habe, sind zweifellos der Bau des
Suezkanals und die Justizverwaltung in Tunis. Ich werde über
dieses letzte sprechen, das sich sehr von unserem Handelsge-
richt in S[ankt] P[etersburg] unterscheidet. Die englischen und
französischen Konsuln hatten den Bey von Tunis 1859 davon
überzeugt, dass es an der Zeit war, das Land mit regulären Ge-
richten auszustatten, die denen in den zivilisierten Ländern
Europas ähnlich waren. So wurde diese willkürliche und patri-
archalische Rechtsprechung abgeschafft, und es wurden unter
dem pompösen Namen „Verfassung“ in jeder Stadt die Regent-
schaft der Gerichte gegründet. In allen europäischen Zeitun-
gen wurde dann verkündet, dass die Regentschaft von Tunis
von seinem berühmten Bey, dessen Name zum Himmel erho-
ben war, mit einer freien Verfassung ausgestattet wurde, da
man sich nichts Erhabeneres vorstellen konnte, als dass dieser
Prinz der Barbaren, wilde [
S. 35
] und fanatische Nachkommen
des glorreichen Volkes des alten Karthago, während seiner Re-
gierung eine solch glorreiche Institution eingeführt hätte.
Abb. 20 – Tunis, Bardo-Palast, Justiz-Saal
(
um 1899), heute Sitz des Parlamentspräsidenten