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Seite 63

Informationsblatt 32 Dezember 2020

Beiträge und Berichte

Tatsächlich verglich eine französische Zeitung den Bey mit ei-

nem Salomo und eine andere mit einem Washington. Aber die

Compiler hatten die Dinge nur aus der Ferne gesehen: Die so-

genannte Verfassung beschränkte sich nur auf die Gerichte, die

nicht aufhörten, den größten Ekel im Land selbst zu erregen,

weil die Richter immer Schmiergeld von beiden Seiten nahmen

und immer diejenigen begünstigten, die mehr bezahlten, so-

dass die Streitigkeiten nie zu einem Ende kamen, besonders als

beide Teile zu arm waren, um zu korrumpieren. Als der Auf-

stand im März letzten Jahres ausbrach, war der erste Anspruch

der Aufständischen, die Abschaffung der Verfassung [es folgt

ein auf Arabisch geschriebenen Wort, d.h. „Institutionen“] und

die Wiedereinführung der patriarchalischen Gerechtigkeit.

Der Bey beeilte sich zuzustimmen und alle Gerichte wurden

sofort abgeschafft. Ab Anfang April präsidierte der Bey erneut

das einzige Gericht des Landes, das in seinem Palast im Bar-

do in der Nähe der Hauptstadt eingerichtet wurde. Nachdem

der Bey dem niederländischen Konsul Nyssen, der gleichzeitig

für die russischen Angelegenheiten zuständig ist, vorgestellt

worden war, bat ich um Erlaubnis, an der mir unverzüglich er-

teilten Justizsitzung teilnehmen zu dürfen.

Der Bey trat mit großem Pomp ein: 100 Militärmusiker führ-

ten mit ihrer Musik den feierlichen Zug an, dann folgten die

Hofdiener, nachher der Bey, danach seine 2 Brüder, dann der

Premierminister Mustafa, dann alle anderen Hofprominenzen

und zuletzt die niedrigeren Beamten.

Die Musiker teilten sich an der Tür der großen Justizhalle in

zwei Formationen, um den anderen dadurch Zutritt zu gewäh-

ren.

Der Bey saß auf dem Thron, rechts standen seine zwei Brüder

und links der Minister Mustafa, der gleichzeitig seine rech-

te und linke Hand ist. Die Prominenzen standen an den Sei-

ten, während die Schreiber auf 2 Bänken saßen. Die Mitte des

Saals war bald voller Streithähne, vor denen ein Imam stand,

der am Ende jedes Prozesses Allah Akbar rief.

Die Halle ist ungefähr so ​breit wie die Marschallhalle

in S[ankt]

P[etersburg], aber länger und hundertmal schöner. Sie befindet

sich im Erdgeschoss und besteht vollständig aus Marmor. Die

Wände sind mit Tausenden von Geboten aus dem Koran ge-

schmückt, die mit großer Kunst in Mosaiken platziert sind.

Während der 3 Stunden, die die Sitzung dauerte, wurde die

Musik ununterbrochen vor der Tür gespielt.

Der Bey rauchte ständig eine Pfeife, die 12 Fuß lang sein konn-

te, und zog sie nicht aus seinem Mund, außer um seine Sätze

auszusprechen.

Die Gerichtsverfahren waren etwas kürzer als unsere in S[-

ankt] P[etersburg], da der Bey, sobald der Ankläger 10 Worte

gesagt hatte und der Angeklagte so viele weitere geantwortet

hatte, bereits seine höchste Entscheidung aussprach, die un-

widerruflich war und immer sofort vollstreckt wurde. Ein Pro-

zess dauerte nie länger als eine Minute und oft viel weniger,

und so wurden 200 Streitigkeiten in 3 Stunden beendet, was

mindestens 6 Monate Aktenstudium und Verhandlung vor dem

Handelsgericht von S[ankt] P[etersburg] gedauert hätte.

Einer wurde verurteilt, erschossen zu werden, der andere zu 20

Jahren Gefängnis, der dritte zu 8 Jahren, der vierte musste eine

Geldstrafe zahlen, der fünfte das Geld, das von ihm verlangt

wurde, zahlen. Mit einer oder zwei Ausnahmen hatten die An-

kläger immer Recht. „Bei Gott“ – dachte ich in mir selbst, als

ich die riesige Geschwindigkeit der Urteile sah – hier reicht die

Weisheit von Salomo nicht aus und dieser Bey muss der be-

rühmte Lynkeus der Antike sein, der bis in die Tiefe der Erde

sehen konnte

.

30

Wenn sich der Bey die Zeit zum Nachdenken nehmen würde,

könnte er nie fertig werden,

denn es gibt drei Justizsitzungen

pro Woche, in denen alle Streitigkeiten im Land beurteilt wer-

den müssen, da es jetzt, wie ich bereits sagte, nur dieses ein-

zige Gericht im ganzen Land gibt. Dabei muss ich Ihnen sa-

gen, dass die Araber ein sehr streittüchtiges und streitsüchtiges

Volk sind.

31

[Tagebuch A5, S. 15]

Ich habe in Tunis viel gelitten und das Fehlen von Ruhe und

Erholung ertragen, weil die Räume klein sind: Sie sind vol-

ler Fliegen, die Moskitonetze sind zerbrochen und die Mücken

dringen durch die Löcher, die die ganze Nacht den Schlafen-

den quälen. […] Die Toiletten waren im türkischen Stil mit

einem Loch im Boden. Trotzdem war das Haus das beste in

der ganzen Stadt. [E.S.]

Malta 6. Juni

Ich mietete eine Segel-Feluke für 10 Rials, um mein Gepäck

[von Tunis] nach La Goletta zu bringen. Das Boot war voll von

Arabern, die schlecht über Christen sprachen und sie Hunde

nannten. Die Winde waren stürmisch, so mussten wir alle ru-

dern.

Ich bin dann gestern Nachmittag mit dem Schiff „Annararno“

von Tunesien aus in See gestochen. […] Um halb drei landeten

wir in Malta

.

[E.S.]

Von Malta aus wird Schliemann weiter nach Ägypten fahren,

wo wir ihm in einem künftigen Beitrag folgen werden ...

Prof. Dr. Umberto Pappalardo,

Institut Superieur des Sciences Humaines Universität von Tu-

nis El Manar

Ezzazia Souilmi,

Università degli Studi L‘Orientale di Napoli

30 Lynkeus, der mythische Prinz von Messene, hatte ein sehr scharfes

Sehvermögen, dank dessen er sogar unter der Erde sehen konnte.

31 Ernst MEYER, Heinrich Schliemann. Kaufmann und Forscher,

Göttingen 1969, S. 184: „Darüber hat er danach in einem mehr-

seitigen russisch geschriebenen Brief an den Vorsitzenden der

Handelsrichter in Petersburg berichtet und eine Übersetzung in

das Italienische seinem Tagebuch beigefügt“.